Peetz, Monika
Freundinnen war es recht.
Der
einzige Mann, der versessen darauf gewesen war, an der Dienstagsrunde
teilzunehmen, war Arne. Er hatte Judith oft ins Le Jardin gefahren und war
nicht nur auf ein Glas, sondern manchmal bis zum Ende des Abends geblieben.
Judiths Glück war, dass Arne es wirklich ernst und gut mit ihr meinte. Ihr
Unglück war, dass er ihr das vierundzwanzig Stunden am Tag beweisen wollte.
Caroline hatte oft darüber gestaunt, wie symbiotisch die beiden waren. Aber
nach Kai war jede Veränderung ein Fortschritt. Judith war nicht stark. Wenn
Judith keine Schulter zum Anlehnen hatte, fiel sie um. Komisch, dass ihr das
nicht schon früher aufgefallen war: Judith, die sich in all den Jahren von
einem Mann zum nächsten geflüchtet hatte, lebte seit Arnes Tod zum ersten Mal
in ihrem Leben alleine. Kein Wunder, dass sie Mühe hatte, sich in ihrem neuen
Leben zurechtzufinden.
Wider
besseres Wissen probierte Caroline noch einmal, Philipp zu erreichen. Die
Sprechstundenhilfe war inzwischen nach Hause gegangen. Stattdessen meldete
sich der Anrufbeantworter: »Praxis Dr. Philipp Seitz. Im Moment bin ich nicht
zu erreichen. In dringenden Fällen wenden Sie sich bitte an den Ärztlichen
Notdienst.«
Irritiert
legte Caroline auf. Sie brauchte keinen ärztlichen Notdienst. Sie brauchte
Philipp. Sie wünschte sich jetzt, ihrer beider Beziehung wäre ein bisschen mehr
wie die zwischen Judith und Arne.
Die Gasse
hatte sich geleert, die Lichter in den Wohnungen waren erloschen. In der
Mauernische flackerte eine Kerze. Die Jungfrau Maria belächelte sie milde. Die
hatte gut lachen. Dabei war sie es gewesen, die die Menschen aufgerufen
hatte, zu der Grotte in Lourdes zu pilgern. »Sagen Sie den Priestern, dass man
in Prozessionen hierherkommen und eine Kapelle bauen soll«, hatte Maria der
Bernadette bei ihrem dreizehnten Auftauchen mitgegeben. Nach der achtzehnten
Erscheinung blieb Maria verschwunden und ließ die Menschen mit dem alleine, was
sie ihnen eingebrockt hatte. Maria hatte gerufen, Arne hatte kommen wollen und
Caroline musste die Suppe auslöffeln.
Entmutigt
ließ Caroline das Telefon sinken. Sie hoffte, dass ihr siebter Sinn für Lügen
sie trog. Es musste einen Grund geben, warum in diesem Tagebuch keine einzige
Angabe stimmte. Einen rationalen Grund.
22
Kiki
thronte auf dem oberen Bett und skizzierte. Die Pilgerreise lieferte ihr eine
willkommene Ausrede, nicht direkt am Computer zu entwerfen. Sie hatte in einer
Zeit studiert, als man mit Stift, Lineal und Papier ausgebildet wurde. Die
Computerisierung der Branche hatte sie unvorbereitet überrollt. Mittlerweile
hatte sie sich die Grundbegriffe angeeignet. Die Selbstverständlichkeit, die jüngere
Designer im Umgang mit den rechnergestützten Zeichenprogrammen mitbrachten,
blieb ihr fremd. Wann immer es schwierig wurde, griff sie heimlich zum Stift
und fühlte sich dabei wie ihr eigener Großvater, der noch immer Charles
Aznavour für den besten Sänger und Peter Frankenfeld für die Krone deutschen Humors
hielt: ein Dinosaurier kurz vorm Aussterben.
Kikis
Blick fiel auf die Freundinnen. Sie hielt alles mit der Kamera fest: die
schlafende Judith. Das Beistelltischchen mit der Kerze, die vor dem Foto von
Arne flackerte. Daneben frische Blumen und ein volles Glas Wein. Auch in Frankreich
hatte Judith ihren Altar für Arne aufgebaut. Sie schlief ruhig. Eva im
Stockbett gegenüber wirkte dagegen, als läge sie im Koma. Seit Stunden hatte
sie sich keinen Zentimeter gerührt. Noch ein Klick. Auf dem Display erschien
das Foto der schlafenden Estelle mit einer blauen Augenmaske. Die verarzteten
Füße ragten unter der Decke hervor.
Kiki grinste.
Estelle würde sie für dieses Foto hassen. Sie scrollte weiter durch ihre Fotos.
Die Ereignisse des Tages zogen im Rückwärtsgang an ihr vorbei. Alles hatte sie
festgehalten: die entgeisterten Mienen der Freundinnen beim Betreten des
Zimmers, Eva inmitten der Schafe, das großartige Picknick, die
Gottesanbeterin, das erste Gruppenfoto, den Champagner am Kölner Flughafen,
die Abreise. Wie ein Schock tauchte ein Schnappschuss auf: Kiki Arm in Arm mit
Max, einem groß gewachsenen Mann mit klassisch geschnittenem Gesicht,
strubbeligen blonden Haaren und einem fröhlichen Lachen, das noch keine Spuren
auf seinem Gesicht hinterlassen hatte. Falten hatte man mit dreiundzwanzig
noch nicht.
Gerührt
klickte Kiki sich durch die digitalen Erinnerungen: ein lebenslustiges
verliebtes Paar in einem Zelt, beim
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