Peetz, Monika
hat, wenn ich nicht schlafen
konnte?« Eva hockte sich auf den Steinboden, lehnte den Rücken an das kalte
Mauerwerk und summte eine kleine Melodie. Eva hatte eine schöne, weiche Stimme.
Ginette, die die Küche auswischte, hielt inne und lauschte gerührt. So wie im
fernen Köln ein kleines Mädchen lauschte. Sprechen konnte Anna nicht. Der Kummer
schnürte ihr die Kehle ab. Eva wusste auch so, was Anna bewegte.
»Ich
vermisse dich auch. Euch alle. Kriech in mein Bett. Und gib Papa einen Kuss von
mir. Schlaf schön.«
»Mama,
weinst du?«, erkundigte Anna sich misstrauisch.
Eva
wischte sich die Tränen von den Wangen und beteuerte: »Nein, nein. Ich weine
nicht.«
Als Eva
den Hörer einhängte, fiel ihr Blick auf ein vergilbtes Stück Papier: Neben dem
Telefon hing der Fahrplan der örtlichen Buslinie. Die dicken rosa Buchstaben
verkündigten, dass Rettung möglich war. Es waren nur ein paar Worte, die Eva
ins Auge stachen: Abfahrt Richtung Flughafen: 8.15 Uhr.
24
Die Sonne
stieg langsam hinter den Hügeln empor und tauchte die grauen Mauern der Häuser
in ein warmes Gold, eine einsame Vespa knatterte lautstark durch die engen Gassen,
zwei Hähne krähten um die Wette. Und Eva wusste immer noch nicht, was zu tun
war. Zwei Seelen wohnten in ihrer Brust und leisteten sich einen verbalen
Schlagabtausch.
»Am
zweiten Tag wird es besser laufen«, sagte die eine.
»Laufen,
um Gottes willen. Keinen Meter mehr. Bitte nicht«, tönte die andere.
»Anna
kommt alleine zurecht. Die Einzige, die nicht zurechtkommt, bist du.«
»Du musst
nach Hause. Du hast vergessen aufzuschreiben, wie der Wäschetrockner
funktioniert.«
»Andere
Mütter bekommen das auch hin. Caroline zum Beispiel. Warum du nicht?«
»Willst du
aufgeben? Als Einzige?«
»Du bist
ein Loser.«
»Aufstehen,
Eva!«
Das waren
nicht mehr die inneren Stimmen. Das war Caroline, die sie sanft weckte.
»Wieso?
Jetzt schon?«, murmelte Eva. Irgendwo zwischen Durchhalteparolen und
hoffnungsloser Selbstbezichtigung musste sie eingeschlafen sein.
»Es ist
halb acht. Wenn wir gleich nach dem Frühstück aufbrechen, haben wir das
anstrengendste Stück geschafft, bevor die Mittagshitze zuschlägt«, munterte
Caroline sie auf.
Erschöpft
sank Eva in ihr Kissen zurück. Wie machten ihre Freundinnen das nur? Caroline
war fit wie ein Turnschuh, Judith hielt ihre Morgenandacht vor dem etwas ramponierten
Pseudoaltar von Arne, sogar Estelle war fertig geschminkt.
»Ich komme
sofort«, vertröstete sie die Freundinnen, die mit Kaffeedurst und Kohldampf in
Richtung Frühstücksraum entschwanden.
Vielleicht
war es das Wort »Mittagshitze«, vielleicht war es die Vorstellung, irgendetwas
schaffen zu müssen, was anstrengend war. Als die Tür hinter den Freundinnen
zuklappte, wusste sie, was zu tun war. Flughafen, nach Hause, der Gedanke war
zu verlockend.
Mühsam
sortierte Eva ihre schmerzenden Glieder. Ungelenk wie immer kletterte sie aus
dem oberen Bett. Wie ein Mehlsack plumpste sie nach unten. Dabei entdeckte sie,
dass sie nicht die Einzige war, der es an frühmorgendlichem Pilgergeist
mangelte. Kiki, die die halbe Nacht gearbeitet hatte, war nach Carolines
Weckruf wieder eingeschlummert.
Klammheimlich
verstaute Eva ihre Sachen, ängstlich bemüht, kein Geräusch zu verursachen. Mit
jedem Teil, das in den Tiefen des Rucksacks verschwand, wurde ihr leichter ums
Herz. Es war naiv gewesen, davon auszugehen, dass man einen Pilgerweg ohne
konsequente Vorbereitung und regelmäßiges Training bewältigten konnte. Morgen
würde sie sich in Köln im Fitnesscenter einschreiben. In ein paar Jahren, wenn
die Kinder größer waren, würde sie mit einem gestählten und durchtrainierten
Astralleib einen zweiten Versuch starten. Es war der falsche Ort und der
falsche Zeitpunkt. Für die Freundinnen war sie nur eine Last und ein ewiger
Bremsklotz.
Nervös
kontrollierte sie die Uhrzeit: Kurz vor acht. Höchste Zeit, das Kapitel Pilgern
abzuschließen. Sie schulterte ihren Rucksack und kippte wie üblich nach
hinten. Gegen das Bett von Kiki. Das mittlere Erdbeben, das das wacklige
Stockbett erschütterte, konnte Kikis gesundem Schlaf nichts anhaben.
Auf
Zehenspitzen schlich Eva sich aus dem Raum und über die knarzende Treppe nach
unten. Mit ein paar Schritten konnte sie beim Ausgang sein. Doch das Pech
blieb ihr treu. Die Türen zum Frühstücksraum standen weit offen. Schlimmer
noch: Die Dienstagsfrauen hatten von ihrem Tisch einen direkten Blick in
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