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Pelagia und der rote Hahn

Pelagia und der rote Hahn

Titel: Pelagia und der rote Hahn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Boris Akunin
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nämlich »Mamser«, was bedeutet ein Unehelicher, ein Bastard, oder ein Schlawiner. Mit so einem Namen kriegt man natürlich nie eine Frau und wird nie ein ehrwürdiger Rabbi. Wo hat man schon mal ein Mädchen gesehen, das »Madame Bastard« heißen wollte? Und »Rabbi Schlawiner«, wie klingt das?«
    Jetzt fragt man sich natürlich, ob dieser hundsgemeine Beamte erreicht hat, was er wollte, ob er dem Schmulik das Leben ruiniert hat?
    Tja, von wegen!
    Stattdessen hatte der beschämende Name dem Jungen von klein auf einen großen, fast unerreichbaren Traum eingegeben: Er wollte irgendwann ins Gelobte Land gehen, wo man Familiennamen überhaupt nicht braucht, weil dort nämlich jeder Jude direkt unter Gottes Augen wandelt, und ER weiß schon, wer wer ist.
    Schmulik hatte immer gelernt – solange er denken konnte. Alle jüdischen Jungen lernen gern, aber so einen emsigen Büffeler wie ihn fand man in ganz Shitomir kein zweites Mal, wo doch, nebenbei bemerkt, immerhin fünfundzwanzigtausend Juden leben, darunter nicht wenige Knaben, die von der Gelehrsamkeit befallen sind.
    Bis zu seinem dreizehnten Lebensjahr hatte Schmulik die fünf Bücher Mose von vorn bis hinten auswendig gelernt. Und zwar nicht bloß irgendwie auswendig, sondern »auf Nadel«. Jemand, der die Heilige Schrift auf diese Art und Weise kennt, nimmt eine Nadel, sticht sie in einen beliebigen Buchstaben und sagt Ihnen sofort, welche Worte die Nadel auf den nachfolgenden Seiten durchbohrt.
    Als Schmulik es darin zur Vollkommenheit gebracht hatte, nahm er sich die Kommentare zur Thora vor, büffelte Wort für Wort alle 613 Gesetze, die den 613 Teilen der Seele entsprechen: die 248 der oberen Sphäre und die 365 der unteren. Auch die Artikel Edut, in denen die geschichtlichen Ereignisse angeführt werden, eignete er sich in allen Einzelheiten an, sowie die leicht zu verstehenden Gesetze der Mischna und sogar die über den menschlichen Verstand gehenden Gebote Chukim.
    An Belesenheit hinreichend gereift, drang er in die Labyrinthe des Talmud vor. Jetzt büffelte er nicht mehr blindlings drauflos, sondern hielt die Schneide seines Verstandes scharf geschliffen, denn in den komplizierten Verzweigungen des Buches »Sohar« liegen unbeschreibliche Schätze verborgen, und wie man weiß, kann ein Mann, der die Gabe besitzt, den geheimen Sinn des Buchstabens zu durchdringen, in diesem Buche die Chiffren zu den großen Geheimnissen und Wundern finden, und er kann dadurch sogar zum Beherrscher des Universums werden. In der Kombination der Buchstaben, die den Namen Gottes bilden, in der heiligen Zahl 26, dem Äquivalent zu Adonaj, den vier Buchstaben JHWH, liegt der Schlüssel zu dem geheimen Wissen verborgen, das vielen Generationen von Talmudisten keine Ruhe ließ. Die anderen Jeschiwa-Schüler sagten wie die Papageien 26 Mal irgendein beliebiges Gebet auf, mal das eine, mal das andere; oder sie schlugen 26 Mal den Kopf gegen die Klagemauer oder umschritten 26 Mal den Berg Meron, wo der große Shimon ben Jochaj begraben liegt, der Autor des Sohar. Schmulik jedoch spürte, dass all dies purer Unsinn war, dass man mit stumpfsinnigen Wiederholungen gar nichts erreichte. Sein Herz sagte ihm, dass alles unermesslich viel schwieriger und gleichzeitig sehr viel einfacher war. Eines Tages bei Sonnenuntergang (er wusste ganz gewiss, dass es bei Sonnenuntergang geschehen musste) würde sich die Wahrheit in all ihrer wunderbaren Einfachheit ganz von selbst vor ihm auftun, und er würde das Unaussprechliche aussprechen, das Unhörbare hören und das Unsichtbare sehen können. Gott würde ihn zu Seinem Weltenbauer ernennen, denn in SEINER allerfassenden Weisheit wusste ER: Auf Schmulik Mamser kann ER vertrauen, der Schmulik wird der Menschheit nichts Böses tun.
    Darauf können Sie sich verlassen: Würde Schmulik zum Beherrscher des Universums, er würde darin alles aufs Beste einrichten. Es gäbe keine Kriege mehr, weil man sich doch immer irgendwie einigen kann, und kein Mensch würde einem anderen mehr ein Leid zufügen, denn wenn die Menschen gut miteinander auskommen, dann leben sie halt miteinander, und wenn nicht, können sie ja getrennte Wege gehen, es gibt doch genug Platz auf der Erde. Und alle Gojim fingen an, die Gebote der Thora zu befolgen! Zuerst nur die obligatorischen, die Halacha genannt werden, und später auch die nicht verpflichtenden, die der Mischna. Nicht lange, und alle, alle Menschen wären Juden, und Schmulik wäre der größte von allen, noch

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