Pelagia und der rote Hahn
Schmulik jetzt, immer noch die Augen vor der Sonne zukneifend, seinen Gebetsschal an, strich sich die langen Haare glatt und las ein Gebet über das Erwachen aus dem Schlafe: »Ich danke Dir, König von allem was lebt und was ist, dass Du in Deiner unendlichen Gnade mir meine Seele gegeben hast.«
Dann wusch er sich die Hände mit Wasser (jede dreimal, wie vorgeschrieben) und sprach das Gebet der Waschung.
Schließlich suchte er den Abtritt auf und dankte dabei dem König des Universums, dass ER den Menschen so füglich erschaffen und seinen Körper mit allen notwendigen Öffnungen und Höhlungen im Innern versehen hatte.
Drei Gebete später - für das Heil der Seele, für die Bekömmlichkeit des Frühstücks (so ein Frühstück wünscht man seinen Feinden: ein Becher mit heißem Wasser und ein halbes Fladenbrot) und für gutes Lernen - setzte Schmulik sich mit den anderen Jeschiwa-Schülern an seinen Platz und vertiefte sich in die Gemara.
Die Nachbarn gebärdeten sich ziemlich geräuschvoll, man könnte auch sagen, sie veranstalteten einen rechten Radau: Der eine las laut seinen Text, ein anderer wackelte mit dem Kopf und wiegte sich vor und zurück, einige fuchtelten ungestüm mit den Händen; aber Schmulik sah und hörte nichts von dem, was um ihn herum vorging. Es gibt wohl keine spannendere Beschäftigung auf der Welt, als Buchstabenverbindungen in ein Heft zu schreiben und kabbalistische Berechnungen anzustellen. Die Zeit hört einfach auf zu existieren, sie erstarrt in Ehrfurcht: Gleich, jetzt gleich rührt Schmulik an das Geheimnis, und schon ist die Welt nicht mehr wie früher. Das kann immer und jederzeit geschehen, in jedem Augenblick!
Ein Geräusch brachte den künftigen Erretter der Menschheit in die schnöde Wirklichkeit zurück. Es war das Knurren im Magen seines Nachbarn Mendel, den man den Balabess Mendel nannte. Balabess oder Balbess heißen die jungen Ehemänner, die bis zum Erreichen der Reife in der Familie der Frau leben und speisen. Mendel war gerade erst vierzehn geworden, er hatte also noch reichlich Zeit zum Reifen.
Früher hatte rechts von Schmulik Michl der Bulle gesessen, dessen Name jetzt nicht mehr laut ausgesprochen werden durfte. Aber die Gedanken kann man nicht verbieten, und Schmulik dachte oft an den armen Bullen. Wo mochte er jetzt wohl sein?
Ja, so kann es einem ergehen. Da lebt ein Mensch ahnungslos vor sich hin, und wenn er auch nicht besonders helle ist und ein bisschen grob geschnitzt wie der Michl, so ist er doch ein Jude, und dann trifft ihn aus heiterem Himmel das Schicksal in Gestalt eines nacktbeinigen Hokuspokusmachers und das war ’s, aus ist es mit dem Juden. Ein entsetzliches Los.
In Mendels Wanst brummte es wieder, und Schmuliks Bauch antwortete mitfühlend.
Die Sonne hatte ihren höchsten Punkt schon überschritten. Zeit zum Mittagessen.
Gleich nach der Ankunft in der Stadt Jeruschalajim, sie möge ewig bestehen, wurde jedem Jeschiwa-Schüler eine Liste ausgehändigt, in der verzeichnet stand, von welcher der ansässigen Familien er am Montag, Dienstag, Mittwoch und so weiter verköstigt werden sollte. Dabei konnte man Glück haben – oder eben nicht. Kein Tag war wie der andere. Geriet man an eine arme Familie oder an eine, wo man den Daumen auf den Beutel hielt, dann hieß es eben hungern. Hatte man eine gastfreundliche und mitleidige erwischt, wurde man satt und rund gefüttert.
Für Schmulik war heute Madame Perlowa an der Reihe. Das war einerseits gut, andererseits schlecht. Gut war es, weil das Essen bei der Witwe besser war als bei jedem Passahmahl: Fleisch und Fisch gab es da, und sogar gefüllte Cremetörtchen (Lob und Dank sei dem Herrn, der so ein Wunder geschaffen hat). Schlecht war’s, weil sie sich immer dazusetzte, ihn mit ihren feuchten Kuhaugen anstarrte und ihm die Schulter streichelte oder ihm manchmal sogar über die Wange strich. Das war Schmulik ungeheuer peinlich, dabei konnte ihm sogar das Eclair im Halse stecken bleiben.
Madame Perlowa war, wie andere reiche Witwen auch, in die Stadt Jeruschalajim gekommen, möge sie ewig bestehen, um nahe dem Friedhof auf dem Ölberg zu sterben. Sie hatte auch bereits eine Grabstelle in allerbester Lage erworben. Aber ihre körperliche Konstitution reichte noch für mindestens fünfzig Jahre, also musste sie sich darum kümmern, wie sie die sinnvoll verbringen konnte. Für gewöhnlich wird ja der Frau dafür, dass sie ihren Gatten bekocht und umsorgt, in der anderen Welt genau die Hälfte
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