Pelagia und der rote Hahn
Vielfalt vertreten, jede Sorte mied die andere wie der Teufel das Weihwasser, und dazu sprach jeder noch sein eigenes Kauderwelsch. Und wenn mal so ein Kaftanträger mit Hut auf ihn zutrat und ihn ansprach, weil er ihn für seinesgleichen hielt, dann brummelte er jedes Mal irgendetwas Unartikuliertes vor sich hin. Schließlich gibt es auch unter den Juden Taubstumme. Die Litwakn schnalzten dann mitfühlend mit der Zunge und ließen den armen Kerl in Ruhe.
Alles lief wunderbar, bis dieses Malheur passierte.
Jakow Michailowitsch folgte dem Objekt durch eine enge Gasse, wobei er immer fein Abstand hielt, sie aber auch nicht aus den Augen ließ – bloß auf das Klack, Klack ihrer Absätze wollte er sich nicht verlassen.
Und plötzlich passierte da was Übernatürliches, geradezu eine Fata Morgana, anders kann man es nicht nennen.
Für eine Sekunde nur hatte er sich umgeguckt, um zu sehen, ob ihm jemand folgte. Plötzlich hörte er ein Plätschern. Er drehte sich um und sah gerade noch, wie jemand Wasser aus einem Fenster im ersten Stock goss – aber die Nonne war wie vom Erdboden verschluckt. Er rieb sich die Augen, träumte er? Gerade war sie noch da gewesen, und auf einmal war nur noch eine Pfütze Seifenwasser auf dem Pflaster. War sie etwa geschmolzen, wie die Eisjungfrau? Oder hatte sie gemerkt, dass sie beschattet wurde, und die Beine in die Hand genommen?
Er rannte los, aber nach ein paar Schritten merkte er, dass er in eine Sackgasse geraten war. Sofort machte er kehrt, und erst, als er fast wieder an seinem Ausgangspunkt angekommen war, entdeckte er rechter Hand eine enge Passage. Da drin musste der Rotfuchs verschwunden sein.
Zu spät, die holte er nicht mehr ein.
Planlos rannte er mal in die eine, mal in die andere der unzähligen Seitengassen, bis ihm der Schweiß in Strömen über den Körper lief. Ein Mensch mit labilerem Charakter als er wäre in dieser Lage in heillose Panik verfallen, doch Jakow Michailowitsch glaubte ja, wie bereits erwähnt, hoch und heilig an die Kraft des menschlichen Verstandes. Unlösbare Aufgaben gibt es nicht, es gibt nur Menschen, die zu dumm sind, sie zu lösen.
Er blieb im Schatten stehen und peilte erst mal die Lage.
»Tch-jaah, tcha-hihaah. Was sagt mir in dieser Situation mein Verstand?
Soll ich zum Russischen Hof gehen, zur Frauenherberge, und warten, bis unser flotter Rotfuchs dort auftaucht?
Aber wozu hat sie die Reisetasche dabeigehabt? Was ist, wenn sie gar nicht zur Herberge zurückgeht?«
Er grübelte noch ein wenig. Dann nickte er sich lobend zu und sagte: »Kluges Köpfchen.«
Und ging zurück in Richtung jüdisches Viertel.
Der krummrückige Judenbengel war immer noch an der Stelle, wo ihn der Rotfuchs angesprochen hatte. Er stand an eine Wand gelehnt und zog die Nase hoch. Dann hockte er sich hin, nahm ein Stöckchen und fing an, irgendwelche Kringel auf die Erde zu malen. Er war so in seine Tätigkeit versunken, dass er gar nicht bemerkte, wie sich Jakow Michailowitsch ihm näherte.
Der wartete, bis die Straße menschenleer war, und berührte den Jungen an der Schulter.
In den Augen, die Jakow Michailowitsch anschauten, spiegelte sich der Widerschein des Sonnenuntergangs über den Dächern – und nackte Angst.
Jetzt kauderwelschte dieses Häuflein Elend irgendwas in seinem jüdischen Jargon und schüttelte dazu mit dem Kopf; als wollte er sich für irgendetwas rechtfertigen.
»Komm mal mit, mein Freund«, sagte Jakow Michailowitsch, fasste den Judenbengel mit leichtem Griff an der Schulter und stellte ihn mit einem Ruck auf die Beine.
»Ich habe nichts getan«, murmelte der Bursche auf Russisch. »Ich habe ihr nur Wasser gegeben . . .«
»Komm, komm«, sagte der vorgebliche Litwak wieder und zog den Jungen hinter sich her. »Hierher, in diese Gasse. Da werden wir ein wenig plaudern, und niemand wird uns dabei stören. Was hat sie dich gefragt, die Rote?«
Der Junge schaute in Jakow Michailowitschs ruhige Augen. Er schien darin wohl etwas Besonderes zu sehen, denn er schluckte krampfhaft, und seine Lippen begannen zu zittern.
Nun, das war ja sehr gut, dass er so verständig war. Und damit es etwas schneller ging, stieß Jakow Michailowitsch ihm noch einmal ganz kurz mit dem Finger unter das Schlüsselbein, auf die Stelle, wo sich ein Nervengeflecht befindet, und hielt ihm gleichzeitig mit der anderen Hand den Mund zu. Man musste ihn ja nicht unbedingt piepsen hören.
Er piepste nicht, sondern machte nur kurz »muh«. Aber seine Pupillen
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