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Pelagia und der rote Hahn

Pelagia und der rote Hahn

Titel: Pelagia und der rote Hahn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Boris Akunin
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»Malli«, hatte er gesagt, und »du bist mir«!
    Rechts neben Malke lag Ljowa Saz, der jüngste der Kommunarden, der gerade erst siebzehn geworden war. Er wälzte sich ununterbrochen hin und her, seufzte und stöhnte, und sobald sich die Dunkelheit ein wenig lichtete, fing er an, hektisch auf einem Stück Papier herumzukritzeln.
    Dann kam er zu Malke gekrochen.
    »Ich werde sterben«, flüsterte er bibbernd. »Ich fühle es genau. Hier, nimm den Brief und schick ihn meiner Mutter in Moskau.«
    »Was für einen Unsinn denkst du dir da aus!«, zischte sie.
    »Das hab ich mir nicht ausgedacht. Ich hab’s gelesen, in einem Buch. Wenn man in der Schlacht fällt, hat man so eine Vorahnung.«
    Malke nahm den Brief an sich und fing an, in sich hineinzulauschen, ob da eine Vorahnung war oder nicht. Und sofort fühlte sie: Ja, da war eine. Sie würde heute sterben, hundertprozentig. Sie sollte besser auch an ihre Familie schreiben. Die ganze Straße wird lesen und weinen . . .
    Sie bat Ljowa um ein Blatt Papier und einen Bleistift und fing schon an zu schreiben: »Liebe Mama, lieber Papa! Ihr sollt wissen, dass ich nichts . . .«
    Aber da ging es plötzlich flüsternd durch die Reihe:
    »Es ist so weit! Es ist so weit!«
    Magellan lief gebückt auf den geflochtenen Zaun zu, hinter dem die ersten Hütten zu sehen waren.
    Die anderen zauderten noch. Malke griff ihre Büchse und trippelte als Erste dem Kommandeur hinterher.
    Wie die Kraniche, in einer keilförmigen Formation, schlichen sie vorwärts: an der Spitze Magellan, rechts von ihm, ein paar Schritte zurück, Malke, links hinter ihr Ljowa, und die anderen folgten zu beiden Seiten.
    Magellan legte das Gewehr auf den Zaun, wickelte vorsichtig das Zielfernrohr aus dem Lappen und schob es in die Nut.
    Das rohe Mauerwerk des Turms ragte drei Stockwerke hoch über den flachen Dächern der Hütten auf. In jedem Stockwerk klaffte eine schmale Schießscharte, und ganz oben war ein Zinnenkranz, hinter dem der Kopf und die Schultern des Wachtpostens auszumachen waren.
    Kann man denn auf so große Entfernung überhaupt treffen?, dachte Malke zweifelnd. Das sind doch mindestens hundert Schritt.
    Magellan legte den Gewehrkolben an die Wange und kniff ein Auge zu.
    Schnell klemmte Malke die Schrotflinte zwischen ihre Knie und hielt sich die Ohren zu. Das gibt gleich einen solchen Knall! Und dann müssen wir ganz schnell zu dem Turm rennen, bevor die Tscherkessen alle wach sind.
    Aber Magellan drückte nicht ab. Er berührte Malke an der Schulter, und als sie die Hände von den Ohren nahm, flüsterte er aufgeregt:
    »Er schläft! Bei Gott, er schnarcht wie ein Murmeltier. Ich kann ’s im Zielfernrohr sehen!« Und böse fügte er hinzu: »Die denken, wir sind keine Männer. Die kommen überhaupt nicht auf die Idee, dass wir uns rächen könnten! Los, vorwärts! Wir versuchen es ohne Blutvergießen! Sag es den anderen weiter: Alle sollen die Schuhe ausziehen.«
    Und dann stolzierten sie leise barfuß und auf Zehenspitzen hinter Magellan her. Aber jetzt nicht mehr in Keilformation, sondern im Pulk. Das sah vielleicht komisch aus!
    Malke musste sich auf die Lippen beißen, um nicht jedes Mal loszuquieken, wenn ihr die scharfen Steinchen in die Fußsohlen piksten. Ihre Stiefel hielt sie in der einen Hand, die Flinte in der anderen. Ihre kurzen Hosen wurden vorne ganz nass vom Tau.
    Im Aul war es vollkommen still, nur ein Hahn krähte irgendwo.
    Sie kamen auf den Dorfplatz. Das heißt, das war eigentlich kein richtiger Platz, sondern bloß eine große dreiseitige freie Fläche, die von dem Turm, einer kleinen Moschee aus gestampftem Lehm und einem zweistöckigen Steingebäude (in dem bestimmt der Beg selber wohnte) begrenzt wurde.
    Vor dem Eingang zu diesem Haus stand ein typisches arabisches Fuhrwerk, ein Hantur, die Pferde ausgeschirrt.
    Plötzlich blieb Malke wie angewurzelt stehen. Neben dem Fuhrwerk saß ein Mann! Er war mit dem Hals an einem Rad festgekettet und sah die Juden mit vor Schreck geweiteten Augen an.
    Das war aber auch kein Wunder! Dieser Anblick war nichts für schwache Gemüter.
    Im trüben Licht des anbrechenden Tages mussten die sich lautlos heranpirschenden Kommunarden zweifellos wie eine Horde wild gewordener Vogelscheuchen aussehen.
    Vorneweg Magellan mit seinem mexikanischen Sombrero und den über der Brust gekreuzten Patronengurten; dahinter Mendel, der trug einen Tropenhelm aus Kork, Brün eine staubige Filzmelone, die anderen arabische Tücher oder einen Fes.

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