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Pelagia und der rote Hahn

Pelagia und der rote Hahn

Titel: Pelagia und der rote Hahn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Boris Akunin
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rausgeben.«
    Während der Araber sprach, hatte Magellan ihn nicht angesehen, sondern die ganze Zeit konzentriert die Landschaft beobachtet. Jetzt kniff er die Augen zusammen und zischte:
    »Da ist er schon, dein Beg. Gleich kannst du ihm alles selber sagen.«
    Auch Malke schaute hinunter ins Tal und sah eine lange Reihe von Reitern, die den Weg heraufgetrabt kamen.
    Direkt neben ihrem Ohr krachte es – Magellan hatte in die Luft geschossen – einmal und noch einmal.
    Das Gejammer der Frauen im Aul schwoll an.
    Warum es Kriege gibt
    Die Schüsse und das Geschrei hatten Pelagia nicht geweckt, weil sie gar nicht geschlafen hatte. Die ganze Nacht war sie in dem engen Zimmer mit den kahlen Wänden auf und ab gegangen. Die Kissen, die auf dem Boden lagen, ließ sie unberührt.
    Sie hatte abwechselnd gebetet und auf sich selber geschimpft, mit allen einer Nonne zur Verfügung stehenden Wörtern, aber Erleichterung hatte ihr weder das eine noch das andere gebracht.
    Wie dumm! Aus purem Leichtsinn hatte sie alles verdorben!
    Sie hätte unbedingt einen Begleitschutz mitnehmen müssen. In der russischen Mission gab es, extra zur Begleitung der Pilger, die sich zum See von Tiberias, nach Bethlehem oder andere unruhige Orte begeben wollten, orthodoxe Montenegriner, wunderbar Furcht einflößende, mit prächtigen Schnurrbärten und silberbestickten Jacken, gefährlichen Krummsäbeln und großen Pistolen im Gürtel. Die Montenegriner hatten einen so schrecklichen Ruf, dass sich kein Räuber auch nur in ihre Nähe wagte.
    Mitrofani hatte Recht gehabt, tausendmal Recht: Unternehmungsgeist hatte sie reichlich, aber es fehlte ihr an Besonnenheit. Erst handelte sie, dann dachte sie nach.
    Und alles nur, weil sie Angst gehabt hatte, noch einen weiteren Tag, ach was, noch eine weitere Stunde zu verlieren. Ein irrationales, unerklärliches Gefühl hatte sie angetrieben, das Gefühl, dass ihr die Zeit davonlief dass ihr nur noch ganz wenig Zeit geblieben wäre. Vor ihrem inneren Auge sah sie die allerletzten Sandkörner aus dem Glaskonus der Zukunft in den Glaskonus der Vergangenheit rinnen.
    Sie hatte – typisch russisch – auf ihr Glück gesetzt. Es wird schon klappen, hatte sie sich gesagt. Zwei Tage lang war das gut gegangen, aber dann hatte sie das Glück im Stich gelassen.
    Zuerst waren sie lange durch die Berge gefahren. An den steilen Anstiegen hatte sie zu Fuß hinter dem Wagen hergehen müssen, die klapperdürren Pferde hätten die Last nicht bewältigt. Am dritten Tag hatten sie die Jesreelebene erreicht, ein weitläufiges, grünes Tal, etwa zehn Werst in der Breite. Der Berg von Megiddo – auf Hebräisch »Har Magiddo« –, in dessen Nähe die Kommune zu finden sein musste, lag in westlicher Richtung.
    Har Magiddo, Armageddon. Hier, auf diesem sumpfigen Feld, sollte dereinst die letzte Schlacht auf Erden stattfinden, zwischen dem Heer des Teufels und den Engeln, dachte Polina Andrejewna. Aber sie dachte es ohne das innere Beben, das eigentlich dazugehörte. Und als sie in der Ferne die regelmäßigen Konturen des Berges Tabor erblickte, den Ort der Verklärung Jesu, blieb sie wiederum vollkommen ungerührt und brummte nur kurz ein Gebet, aber rein mechanisch, nicht von Herzen. Ihre Gedanken waren zu weit entfernt von göttlicher Verzückung.
    Bis zu dem Ort, an dem die frisch gebackenen »Sadduzäer« lebten, waren es nur noch wenige Werst, und immer noch hatte sich die Nonne nicht überlegt, wie sie ihrem stahläugigen Anführer Magellan eigentlich gegenübertreten wollte.
    Dummer, dummer Manuila! Was trieb ihn bloß?! Er flatterte wie eine Motte in die Kerze! Magellan hatte ihm doch schon auf dem Dampfer angedroht, er würde ihn am liebsten »an den Füßen packen und mit dem Schädel auf den Poller hauen«. Vielleicht hatte er ja seine Drohung wahr gemacht, und Glasauge war unschuldig?
    Dieser Magellan war ohne weiteres dazu imstande, er war so ein Lord-Byron-Typ, ein Übermensch und Charismatiker. Für so einen ist das Prinzip oder die Pose wichtiger als das eigene Leben, vom Leben anderer gar nicht zu reden. Er hatte damals zu seinen Jungs und Mädels gesagt, Manuila sei ein Agent der Geheimpolizei. Die Frage war nur, warum er das gesagt hatte. Vielleicht wollte er ja seine Kommunarden durch den Mord an einem vermeintlichen Spitzel umso fester zusammenschweißen? Da wäre er nicht der Erste, der das versucht hätte, genau so hatte es ein anderer Übermensch, Sergej Netschajew, mit dem Studenten Iwanow gemacht. .

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