Pelagia und der rote Hahn
dass der Bischof Pelagia seinen Segen für die Reise erteilt hatte, löste bei Dolinin nicht die erwartete Begeisterung aus. Er nahm die Mitteilung mit einem Nicken zur Kenntnis, sagte jedoch kein Wort. Nur sein Mundwinkel zuckte nervös. Dieser Herr war doch einigermaßen sonderbar.
Auch als sie dann unterwegs waren, gab er sich betont zurückhaltend. Seine Äußerungen beschränkten sich auf die notwendigsten Höflichkeitsfloskeln, ansonsten mied er jedes Gespräch und machte keinen seiner üblichen Scherze. Er war wie ausgewechselt.
Anfangs war die Nonne über dieses Betragen recht befremdet. Bekümmert fragte sie sich, ob sie ihn vielleicht auf eine unerfindliche Art und Weise beleidigt hatte. Aber dann nahm sie es, wie es war, und schrieb die mürrische Laune des Untersuchungsführers seiner hypochondrischen Natur zu.
Während der Fahrt auf dem Lastkahn, die sie zuerst einen Nebenarm des Flusses, dann einen Nebenarm des Nebenarmes entlangführte, blätterte Dolinin immerzu in seinem Notizbuch oder schrieb irgendwelche Briefe oder Relationen. Pelagia achtete geflissentlich darauf, ihm in keiner Weise lästig zu fallen. Sie beschäftigte sich mit ihrem Strickzeug – gerade hatte sie eine Weste aus Hundehaar für Mitrofani in Arbeit – oder las in den »Lebensbeschreibungen heiliger Frauen der Neuzeit«, die sie als Reiselektüre mitgenommen hatte, oder sie ließ einfach nur ihren Blick über das vorbeiziehende Ufer schweifen. Aber als sie den Lastkahn verließen und ihre Reise mit dem Fuhrwerk fortsetzten, machte das beständige Gerüttel die beiden ersteren dieser Tätigkeiten unmöglich, die dritte hingegen verlor ihren Sinn aufgrund der Beschränktheit der Aussicht: wohin man auch schaute, nichts als Bäume.
Auch jetzt verhielt sich Sergej Sergejewitsch zunächst unverändert distanziert. Von Zeit zu Zeit jedoch wandte er sich im Sattel um, als wollte er sich vergewissern, ob die Nonne immer noch auf ihrem Platz saß und zwischenzeitlich nicht etwa vom Kutschbock gefallen war.
Bei der mittäglichen Rast trat Pelagia zu der grob gezimmerten Kiste, in der der Ermordete ruhte, und begann flüsternd ein Gebet zu sprechen. Worin liegt der Sinn dieses tragischen Ereignisses, das man »jähen Tod« nennt, dachte sie – wenn ein Mensch in der Blüte seiner Jahre dahingerafft wird, ohne jede Warnung, ohne Vorbereitung? Was hat der Herrgott davon? Dient es einfach nur als Beispiel und Belehrung für die Zurückgebliebenen? Aber was ist dann mit dem Verstorbenen? Verdient es denn ein Mensch, nur ein belehrendes Beispiel für andere zu sein? Sie war so in ihre Gedanken vertieft, dass sie die Schritte nicht gehört hatte, und als ganz nahe an ihrem Ohr Dolinins Stimme erklang, fuhr sie erschrocken zusammen.
Als wäre nichts gewesen, als hätte es diese zweieinhalb Tage ununterbrochenen Schweigens nicht gegeben, fragte der Untersuchungsführer:
»Und, was halten Sie nun von der ganzen Sache, Schwester?«
»Von welcher Sache?«
»Sie wissen genau, was ich meine.« Sergej Sergejewitschs Gesicht zuckte nervös. »Ich bin sicher, Sie haben schon längst eine klare Vorstellung vom Hergang des Verbrechens in Ihrem Kopf. Wer, wie und warum. Sie sind eine außerordentlich kluge Frau, Sie besitzen einen scharfen Verstand und einen ausgezeichneten Spürsinn. Während der ersten Etappe der Ermittlung waren Sie mir eine unschätzbare Hilfe, also bleiben Sie jetzt nicht auf halbem Wege stehen, reden Sie: Hypothesen, Vermutungen, die fantastischsten Einfälle – ich bin für alles dankbar.«
Hätte er diese Frage nicht erst jetzt, sondern vor der tränenreichen Aussprache mit Mitrofani gestellt, Pelagia hätte ganz gewiss nicht gezögert, ihm ohne Umschweife alle ihre Gedanken und Erwägungen mitzuteilen. Jene Unterredung mit dem Bischof aber und ihr neuerliches Versprechen hatten in der Nonne eine entscheidende Wendung ausgelöst. Nachdem sie sich freimütig eingestanden hatte, vor allem aus eitler Abenteuerlust und sündiger Neugier in diese Reise nach Stroganowka eingewilligt zu haben, verbot sie sich jetzt aufs Allerstrikteste, darüber nachzudenken, wo jener Herr Glasauge wohl stecken mochte, ob er nun den Propheten ermordet hatte oder nicht, und wenn ja, warum – ob aus Hass oder Gewinnsucht oder aus sonst irgendwelchen Motiven. Deshalb senkte sie nur demütig die Augen und entgegnete dem Untersuchungsführer:
»Ich habe überhaupt nicht darüber nachgedacht; weil es mir nicht zusteht, darüber nachzudenken. Sie
Weitere Kostenlose Bücher