Pelagia und der rote Hahn
die Augenlider von Watte gehalten wurden.
Sie sah sich den Toten genauer an, und plötzlich kam es ihr so vor, als wäre das gar nicht Scheluchin. Scheluchins Lippen waren schmal und bläulich gewesen, bei dem hier waren sie aber voll und leuchtend rot. Und auch die Augen waren irgendwie anders, sie waren stechend und lagen tief in ihren Höhlen.
Das ist ganz gewiss nicht Scheluchin, dachte die Schlafende. Er sieht ihm zwar ähnlich, aber er ist es nicht. Das ist kein anderer als Manuel. Und kaum hatte sie die Identität des Toten erraten, fing er plötzlich an, sich zu bewegen – er hatte sich nur tot gestellt.
Zuerst zwinkerte er, aber nicht mit beiden Augen gleichzeitig, sondern hübsch der Reihe nach – erst mit dem einen, dann mit dem anderen, er zwinkerte quasi zweimal. Dann leckte er sich mit seiner feuchten, leuchtend roten Zunge ganz langsam über seine purpurroten Lippen. Eigentlich etwas ganz Normales – jemand leckt sich die Lippen, aber Pelagia schien es, als hätte sie in ihrem ganzen Leben nie etwas Schrecklicheres gesehen, sie stöhnte im Schlaf auf und warf ihren Kopf auf dem Heu hin und her.
Manuel riss seine riesengroßen Augen ganz weit auf und lockte die Schwester mit einem langen gelben Finger zu sich.
»Na, komm schon her, komm her«, flüsterte er.
Sie hätte weglaufen sollen, so schnell sie ihre Beine trugen, aber eine geheimnisvolle Kraft schob sie auf die sitzende Gestalt zu.
Eine harte, raue Hand streichelte der vollkommen willenlosen Pelagia über die Wange und den Hals, und sie empfand dabei Wonne und Scham zugleich.
»Meine Braut, meine Geliebte«, sagte Manuel in dem gedehnten, trägen Stroganowkaer Tonfall.
Dann strich die Männerhand ihr über die Brust. »Herr, Jesus Christus . . .«, betete die Nonne. Ein Finger des Propheten hatte ihre Halskette ertastet, zerriss sie mit einem kurzen Ruck und schleuderte das Kreuz in eine Ecke.
Jetzt kicherte Manuel, sein Bart bebte. Spöttisch ahmte er sie nach:
»Herr, Jesus Chriiistus . . . Och, mein kleines Küken. Ko-ko-ko, ko-ko-ko.« Und dann schrie er aus voller Kehle: »Kikke-ri-kiiiiü!«
Erschrocken fuhr Pelagia hoch.
Genau unter ihr krähte aus Leibeskräften der Hahn.
O Gott!
Dann war es still
In der Dunkelheit raschelte und scharrte es. Der Schreihals schlug mit den Flügeln und klackerte mit seinen Krallen über die Sprossen. Er kam heraufgeklettert, um mit Pelagia Bekanntschaft zu schließen.
»Guten Morgen«, begrüßte die Nonne ihren Besucher. Der legte den gefiederten Kopf zur Seite und musterte sie.
»Ko-ko«, bemerkte er abschätzend.
Pelagia schien ihm zu gefallen. Er kam näher und pickte ohne viel Federlesens nach ihrem schwarz verhüllten Knie.
»Du bist mir ja einer«, sagte die Schwester tadelnd.
Im schwachen Mondlicht, das durch das löchrige Dach hereinsickerte, konnte sie sich den gefiederten Gesellen nicht genauer ansehen, aber wozu auch? Jeder Hahn sieht aus wie der andere.
»Ach, Hans-Hähnchen, Butterköpfchen, hast ein seidig Kämmchen«, sang die Nonne und zog ihn leicht an seinem fleischigen Kamm.
Der Hahn lief weg, aber nicht weit.
»Wann wirst du zum zweiten Mal krähen? Bald schon?«, fragte die Schwester.
Aber er antwortete nicht.
Sie stieg hinunter in den Hof, wusch sich am Brunnen das Gesicht und kämmte sich. Zum Glück war hier niemand, vor dem sie sich hätte genieren müssen.
Der Himmel war von Sternen übersät. Pelagia war von dem Anblick wie gebannt.
Da war auch der Hahn schon zur Stelle, er sprang auf den Brunnenrand und schaute ebenfalls nach oben. Vielleicht dachte er ja, dort am Himmel habe jemand goldene Hirse ausgestreut. Der Hahn sprang höher hinauf, bis ganz oben auf die Brunnenwinde, und reckte den Hals, aber bis zu den Hirsekörnern reichte er nicht. Er kollerte böse, und dann:
»Kikkerikii!!«
Pelagia war sich nicht sicher. Warum hatte er jetzt gekräht, wegen seiner Hahnenuhr oder bloß aus Verdruss? Galt das nun als »zweiter« Hahnenschrei oder nicht?
Aber auch in den anderen Höfen begannen jetzt die Gockel zu krähen. Es war Zeit.
Als sie über die Wiese lief, ging der Mond unter, und es wurde stockfinster, so wie es sich kurz vor Sonnenaufgang gehört. Der Pfad war kaum zu erkennen, und jeder Schritt gab einen dumpfen Widerhall. Zuerst dachte sie, jemand käme hinter ihr her, aber dann begriff sie, dass es sich um ein Echo handelte. Ein Echo auf freiem Feld, sie hatte nicht gewusst, dass es so etwas gab. Vielleicht lag es an der besonderen
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