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Pelagia und der rote Hahn

Pelagia und der rote Hahn

Titel: Pelagia und der rote Hahn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Boris Akunin
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Arm.
    Pelagia wunderte sich kein bisschen über diese eigenmächtige Veränderung des Rituals; sie maß dem schlicht keine Bedeutung bei. Sie hängte sich bei ihm ein und lächelte:
    »Was für ein wunderbarer Abend.«
    Und in diesem Augenblick kam Berditschewski die kühne Idee, er könnte das Geleit bis zur Treppe in den Rang einer Gewohnheit erheben. Vielleicht sollte er gar einen Händedruck zum Abschied einführen? Was wäre schon dabei? Handküsse sind bei Nonnen unüblich, aber ein Händedruck, ganz kameradschaftlich gewissermaßen, das war doch nichts Unkeusches.
    Auf der Vortreppe lüpfte der Staatsanwalt seine Schirmmütze – mit der linken Hand, damit die rechte frei blieb für sein verwegenes Vorhaben aber ganz von alleine wagte er nicht, sie auszustrecken; Pelagia allerdings kam gar nicht auf den Gedanken.
    »Gute Nacht«, sagte sie zum Abschied.
    Sie fasste nach dem Türgriff und schrie plötzlich auf – zart und schutzlos, wie ein junges Mädchen.
    Sie zog ihre Hand zurück, und Berditschewski erblickte auf ihrem Ringfinger ein winziges Blutströpfchen.
    »Ein Nagel!«, sagte die Nonne ärgerlich. »Man hätte schon längst einen neuen Griff anbringen müssen, am besten einen aus Kupfer.«
    Sie begann nach einem Taschentuch zu suchen.
    »Erlauben Sie, erlauben Sie!«, rief Matwej Benzionowitsch eifrig und konnte sein Glück gar nicht fassen. »Nicht mit dem Taschentuch, nicht doch! Es könnten Mikroben daran sein! Am Ende bekommen Sie den Wundstarrkrampf, um Gottes willen! Man muss die Wunde unbedingt aussaugen, das habe ich gelesen . . . in einem wissenschaftlichen Artikel.«
    Dann verlor er endgültig den Kopf – er griff Pelagias Hand und brachte den verletzten Finger an seine Lippen.
    Sie war so erstaunt, dass sie gar nicht daran dachte, ihm ihre Hand zu entziehen; nur sah sie den besorgten Staatsanwalt auf eine ganz besondere Weise an, als sehe sie ihn zum ersten Mal.
    Erriet sie es?
    Aber in diesem Augenblick war Berditschewski alles gleichgültig. Von der Wärme ihrer Hand, vom Geschmack ihres Blutes wurde ihm schwindelig – wie einem ausgehungerten Vampir.
    Matwej Benzionowitsch saugte, so stark er konnte. Er bedauerte nur eines: dass es nicht der Biss einer giftigen Schlange gewesen war.
    Endlich kam Pelagia zu sich und entzog ihm ihren Finger.
    »Spucken Sie aus!«, befahl sie. »Wer weiß, was für Schmutz darin ist!«
    Er spuckte dezent in sein Taschentuch, obwohl er es natürlich vorgezogen hätte, ihr Blut herunterzuschlucken.
    Seinen Ausbruch bereits bereuend, murmelte er verlegen:
    »Ich werde diesen abscheulichen Nagel unverzüglich herausziehen.«
    O weh! Sie hat es gemerkt, ganz bestimmt! Bei ihrem Scharfsinn. Jetzt ist es vorbei, sie wird mir aus dem Weg gehen, sie wird mich meiden!
    Er nahm die Laterne von der Deichsel und holte aus dem Kasten unter dem Sitz eine Zange hervor (so ein Ding gehört in jede Equipage, damit man mal einen Splitter aus dem Huf ziehen kann, wenn das Pferd plötzlich lahmt).
    Als er wieder an der Tür war, gab er sich streng und sachlich. Er zog den tückischen Nagel mit einem Ruck heraus und zeigte ihn vor.
    »Seltsam«, sagte Pelagia. »Die Spitze ist rostig, aber der Kopf ist wie neu. Als hätte man ihn gerade eingeschlagen.«
    Berditschewski leuchtete mit der Laterne. Die Spitze des Nagels glänzte. Blut? Ja, von Blut sicher auch, aber der Nagel glänzte auch weiter oben, und zwar heller als das Blut. Es sah aus wie Öl.
    Dem Staatsanwalt stockte der Atem, aber diesmal nicht vom Aufwallen romantischer Gefühle.
    »Rasch! Ins Krankenhaus!«, brüllte er.
    Krrk-krrk
    Professor Sassekin, Chefarzt des Martha-Marinskaja-Krankenhauses und eine allrussische Kapazität, zeigte für die Wunde an Pelagias Finger keinerlei Interesse. Er schaute sie sich kurz an und zuckte nur mit den Schultern, nicht einmal Jod schmierte er drauf. Dafür nahm er den Nagel weitaus ernster. Er brachte ihn sofort ins Labor, experimentierte eine geschlagene Stunde daran herum und kehrte mit bestürzter Miene zurück.
    »Eine sehr interessante Zusammensetzung«, verkündete er. »Um die exakte Formel zu ermitteln, brauche ich noch etwas Zeit, aber mit Sicherheit sind Anteile von Agaricus muscarus und Strychnos toxifera darin enthalten; und die Konzentration von Kolibakterien ist einfach phänomenal. Da hat man Ihnen ja einen schönen Punsch zusammengerührt, ajajaj! Wenn Sie diese Scheußlichkeit nicht sofort ausgesaugt hätten, mein Guter . . .« Der Doktor schüttelte viel

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