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Pelagia und der schwarze Moench

Pelagia und der schwarze Moench

Titel: Pelagia und der schwarze Moench Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Boris Akunin
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ein tätiges Leben führt, wenn er irgendeine Rolle spielt, muss man ihn eben mit einem Repertoire versorgen. Dazu muss man Rollen auswählen, die die besten, erhabensten Qualitäten der menschlichen Seele zur Geltung kommen lassen, und nicht etwa Chlestakow, den Geizigen Ritter oder, Gott behüte, Richard den Dritten.«
    »Dann ist › Nikolaj Wsewolodowitsch‹ also Nikolaj Wsewolodowitsch Stawrogin aus dem Roman › Die Dämonen‹?«, seufzte Frau Lissizyna. »Aber warum haben Sie eine so gefährliche Rolle für Ihren Patienten ausgesucht?«
    »Ich habe die Rolle ja nicht ausgesucht!«, rief der Doktor aufgebracht. »Ich achte sehr genau auf seine Lektüre, ich weiß, welche Rolle ihn fesseln könnte, und darum ist › Der Idiot‹, ebenfalls ein Roman von Herrn Dostojewski, seit einem Jahr das einzige Buch, das erlesen darf. Von allen Figuren des Romans passt nur Fürst Myschkin zu Terpsichorow. Und die Rolle war so recht nach seinem Geschmack. Er hat sich in den stillen, lauteren Lew Nikolajewitsch Myschkin verwandelt, den besten aller Erdenbürger. Alles ging wunderbar, bis ihm irgendein Flegel › Die Dämonen‹ zugesteckt hat, was mir entgangen ist. Stawrogin ist natürlich ein viel interessanterer Typ als Fürst Myschkin, also hat Terpsichorow das Repertoire gewechselt. Byronismus, Gottlosigkeit und Poetisierung des Bösen sind im dramatischen Sinne weit reizvoller als christliche Milde, Verständnis und ewiges Verzeihen. Als ich es bemerkte, war es zu spät – Laert war bereits gänzlich verwandelt, und ich konnte wieder von vorn anfangen. Für die Zeit der Krise habe ich ihn möglichst weit weg von den übrigen Patienten untergebracht und eine erfreulichere Lektüre als › Die Dämonen‹ gesucht. Man muss sagen, das ist ganz und gar keine einfache Aufgabe. Doch ich hätte nicht gedacht, dass Stawrogin so gefährlich sein kann, außerdem habe ich Laerts schöpferische Fantasie unterschätzt. Aber trotzdem – ein Stawrogin, der Frauen schlägt, das ist schon eine sehr kühne Interpretation der Figur. Immerhin ist er ein Aristokrat.«
    »Er hat mich nicht geschlagen«, sagte Frau Lissizyna leise, die sich zusammenreimen konnte, woher der arme Verrückte den schlechten Roman bekommen hatte. Vater Mitrofani hatte Aljoscha den Roman als Reiselektüre mitgegeben – aus pädagogischen Erwägungen, und das war nun das Resultat!
    Polina Andrejewna fühlte sich in gewissem Grade mitschuldig (sie war es gewesen, die den Bischof zur Lektüre von Romanen ermuntert hatte) und bat:
    »Schicken Sie Nikolaj Wsewolodowitsch nicht fort, ihn trifft keine Schuld. Ich werde mich nicht beschweren.«
    »Wirklich?« Korowin strahlte und drohte dem unsichtbaren Terpsichorow mit dem Finger. »Nun, jetzt wirst du den Zucker aus dem › Blauen Vogel‹ einstudieren!« Doch sogleich ließ er den Kopf wieder hängen. »Ich muss zugeben, dass ich kein guter Seelenheiler bin. Es sind zu wenige, denen ich helfen kann. Der Fall Terpsichorow ist schwer, aber nicht hoffnungslos, doch wie ich Lentotschkin retten soll – das ist mir ein Rätsel.«
    Die Lissizyna erschauerte, als sie begriff, dass Aljoschas Verschwinden noch nicht entdeckt war, und sagte gar nichts.
    Die zweirädrige Kutsche glitt bereits durch den Kiefernwald, vorbei an den bunten, verschiedenartigen Häuschen der Klinik. Hinter einer Biegung tauchte die Villa des Doktors auf, in deren Einfahrt eine vierspännige, niedrige geschlossene Kutsche stand. Sie war schwarz und hatte ein goldenes Kreuz am Wagenschlag.
    »Seine Hochehrwürden geruht mich zu besuchen«, wunderte sich Donat Sawwitsch. »Wieso das? Gewöhnlich lässt er einen rufen und gibt beizeiten Bescheid. Offenbar ist etwas Besonderes vorgefallen. Ich führe Sie in meinen Privatflügel, Polina Andrejewna, und werde anordnen, dass man sich um Sie kümmert. Ich selbst hingegen, verzeihen Sie ergebenst, gehe ins Kabinett zum Herrscher der Insel.«
    Doch es kam anders, als Korowin gedacht hatte. Der Archimandrit hatte die heranrollende Kutsche wohl schon durchs Fenster gesehen und kam ihnen in der Vorhalle entgegen. Das heißt, er kam ihnen entgegengestürzt: ganz in Schwarz, aufgebracht und drohend mit dem Stab auf den Boden klopfend. Er streifte die abgerissene Person weiblichen Geschlechts nur mit einem flüchtigen Blick, kräuselte angewidert die Lippen und wandte sich ab, als fürchte er, seine Augen würden durch einen derart unzüchtigen Anblick besudelt werden. Ob er die großzügige Pilgerin erkannte oder

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