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Pelagia und der schwarze Moench

Pelagia und der schwarze Moench

Titel: Pelagia und der schwarze Moench Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Boris Akunin
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energisch wie diese, sie ruhte ebenso in sich selbst, wusste ebenso genau, was sie wollte und wie sie es erreichen konnte.
    Die zweite Tochter, Ljudmilotschka, schlug eher nach dem Vater – sie weinte gerne, war mitfühlend und empfindsam gegenüber der Natur. Sie würde es schwer haben im Leben. Wenn Gott ihr doch einen liebevollen, gütigen Bräutigam geben würde!
    Die dritte Tochter, Nastjenka, versprach ein echtes musikalisches Talent zu werden. Wie federleicht ihre rosigen Fingerchen über die Tasten glitten! Wenn sie herangewachsen wäre, würde man sie unbedingt nach Petersburg bringen und Iossif Solomonowitsch vorstellen müssen.
    Das gedankliche Inventarisieren seiner zahlreichen Familienmitglieder war Berditschewskis liebster Zeitvertreib, doch dieses Mal kam er nicht einmal bis zur vierten Tochter, Lisanka. Hinter einer Wegbiegung hervor kam Berditschewski eine Reiterin auf einem Rappen entgegen, und diese Erscheinung war so unerwartet, so unvereinbar mit dem gedämpften Geläut der Klosterglocken und der eintönigen Landschaft, dass Matwej Benzionowitsch erstarrte.
    Der Hengst trabte leicht zur Seite geneigt dahin, wie es reinrassige und besonders übermütige Pferde gelegentlich machen, sodass der stellvertretende Staatsanwalt die wie eine Amazone zu Pferd sitzende Reiterin von oben bis unten betrachten konnte – von dem Hütchen mit dem Schleier bis zu den Spitzen ihrer Lackstiefel.
    Als sie auf gleicher Höhe mit dem Fußgänger war, sah sie ihn von oben herab an, und unter dem pfeilspitzen Blick ihrer schwarzen Augen erbebte der besonnene Staatsanwalt am ganzen Körper.
    Das war sie, ohne jeden Zweifel! Die Unbekannte, die allein durch ihr Erscheinen die Nebeldecke von der Insel gefegt hatte. Ein Kardinalsbirett aus purpurrotem Samt hatte den Hut mit den Straußenfedern abgelöst, doch sie trug noch immer ein Trauerkleid, und Berditschewskis feine Nase roch das bekannte Aroma ihres Parfüms, aufregend und gefährlich.
    Matwej Benzionowitsch blieb stehen und ließ seinen Blick über die graziöse Reiterin schweifen. In der rechten Hand hielt sie eine Reitgerte, mit der sie die glänzende Kruppe des Pferdes weniger schlug, als dass sie sie sacht streichelte, und in der linken Hand hielt sie ein spitzenbesetztes Taschentuch.
    Mit einem Mal riss sich der leichte Stofffetzen los, wie ein verspielter Schmetterling flatterte er durch die Luft, um sich dann am Wegrand niederzulassen. Die Amazone bemerkte den Verlust nicht und galoppierte davon, ohne sich nach dem wie versteinert dastehenden Mann umzusehen.
    Mag es da liegen bleiben, warnte Berditschewskis gesunder Menschenverstand, oder wohl eher sein Selbsterhaltungstrieb. Das Unerfüllbare wird ja eben deshalb so genannt, weil es nicht in Erfüllung gehen kann.
    Doch seine Füße trugen Matwej Benzionowitsch bereits von selbst zu dem hinuntergefallenenen Taschentuch.
    »Gnädige Frau, warten Sie!«, schrie der Ermittler mit sich überschlagender Stimme. »Ihr Taschentuch! Sie haben Ihr Taschentuch verloren!«
    Er musste dreimal rufen, bevor die Reiterin sich umwandte. Als sie begriff, was er wollte, nickte sie und kehrte um. Während sie gemächlich näher ritt, musterte sie den Herrn im Palmerston und den schmutzigen Halbstiefeln mit einem merkwürdigen halb fragenden, halb spöttischen Lächeln.
    »Ich danke Ihnen«, sagte sie und zügelte ihr Pferd, ohne die Hand nach dem Taschentuch auszustrecken. »Sie sind sehr liebenswürdig.«
    Berditschewski reichte ihr das Tuch und starrte begierig in das betörende Gesicht der Dame – oder war sie ein Fräulein? Diese tiefen, leicht mandelförmigen Augen! Die kühne Linie des Mundes, das widerspenstige Kinn und der bittere, kaum merkliche Schatten unter den Wangenknochen.
    Doch er musste jetzt etwas sagen. Er konnte sie nicht einfach nur anstarren.
    »Ein Batisttüchlein . . . Es wäre schade, wenn Sie es verloren hätten«, murmelte der stellvertretende Staatsanwalt, und er spürte, dass er rot wurde wie ein kleiner Junge.
    »Sie haben kluge Augen. Empfindsame Lippen. Ich habe Sie noch nie zuvor hier gesehen.« Die Amazone strich dem Rappen über den samtweichen Hals. »Wer sind Sie?«
    »Berditschewski«, stellte er sich vor, und er konnte sich gerade noch zurückhalten, seine Funktion zu erklären – aber vielleicht hätte das die Schöne wenigstens bewogen, ihn nicht mehr so spöttisch anzusehen?
    Anstatt seine Funktion zu nennen, begnügte er sich mit dem Rang:
    »Kollegienrat.«
    Aus irgendeinem Grunde

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