Pelagia und der schwarze Moench
ging nicht – er rannte die Straße und die Uferstraße entlang. Die Passanten blickten sich nach ihm um; im gesitteten Neu-Ararat war ein Mann, der durch die Straßen rannte, noch dazu spätabends, offenbar eine Seltenheit.
Nur um mit einem Zeugen zu sprechen, selbst wenn es sich um einen wichtigen Zeugen handelte, wäre Berditschewski nicht so Hals über Kopf davongestürzt, doch er hatte plötzlich das unwiderstehliche Verlangen, Lew Nikolajewitschs klares, gutmütiges Gesicht zu sehen und mit ihm zu reden, einfach zu reden – über etwas Einfaches, Bedeutsames, das weit wichtiger war als alle Nachforschungen.
Die weiße Kuppel der Rotunde, eine der örtlichen Sehenswürdigkeiten, war von weitem zu erkennen. Der stellvertretende Staatsanwalt war völlig erschöpft, als er sie erreichte, und er hatte die Hoffnung bereits auf gegeben, Lew Nikolajewitsch noch anzutreffen. Doch von der Bank erhob sich eine hagere Gestalt, die ihm entgegentrat und zur Begrüßung den Arm schwenkte.
Beide freuten sich außerordentlich. Bei Matwej Benzionowitsch konnte man das verstehen, aber auch Lew Nikolajewitsch war allem Anschein nach höchst zufrieden.
»Und ich dachte schon, Sie würden nicht kommen!«, rief er aus, während er dem Beamten kräftig die Hand schüttelte. »Ich habe trotzdem gewartet, für alle Fälle. Aber nun sind Sie da! Das ist gut, das ist vortrefflich.«
Es war eine helle oder – wie poetische Naturen sagen – zauberhafte Nacht. Lew Nikolajewitschs Augen und sein wunderbares Lächeln waren von solchem Wohlwollen erfüllt, und Berditschewskis Seele war so bestürzt und gequält, dass er, kaum war er wieder zu Atem gekommen, diesem Mann, den er nur flüchtig kannte, erzählte, was er erlebt hatte. Von seinem Charakter und seiner tief verwurzelten Schüchternheit her neigte Matwej Benzionowitsch keineswegs zu vertraulichen Geständnissen, schon gar nicht gegenüber Fremden. Doch zum einen erschien ihm Lew Nikolajewitsch aus irgendeinem Grunde nicht fremd, und zum anderen verspürte er ein überaus dringendes Bedürfnis, sich auszusprechen und seine Seele zu erleichtern.
Ohne etwas zu beschönigen, erzählte Berditschewski von der geheimnisvollen Reiterin und seinem Sturz (im wörtlichen wie im moralischen Sinn), wobei er sich von Zeit zu Zeit die über die Wangen rollenden Tränen abwischte.
Lew Nikolajewitsch erwies sich als idealer Zuhörer – er lauschte ernsthaft, ohne zu unterbrechen, und im höchsten Maße mitfühlend, sodass er selbst beinahe in Tränen ausgebrochen wäre.
»Sie machen sich grundlos Vorwürfe!«, rief er aus, kaum hatte der Staatsanwalt geendet. »Wahrhaftig, ganz ohne Grund! Ich weiß wenig über die Liebe zwischen Mann und Frau, doch man hat mir erzählt – und ich hatte auch Gelegenheit, darüber zu lesen – , dass selbst der vorbildlichste, tugendhafteste Familienvater eine zeitweilige Trübung des Verstands erfahren kann. Schließlich lebt jeder Mensch, auch der alleranständigste, im Grunde seines Herzens in der Erwartung eines Wunders, und sehr häufig scheint ihm eine ungewöhnliche Frau dieses Wunder zu sein. Das gibt es auch bei Frauen, doch besonders häufig kommt es bei Männern vor – einfach deshalb, weil Männer mehr zum Abenteuer neigen. Das, was Sie erzählt haben, ist doch eine Kleinigkeit. Das heißt, natürlich ist es keine Kleinigkeit, das ist mir so herausgeplatzt, um Sie zu trösten, doch es ist schließlich nichts passiert. Sie sind völlig rein vor Ihrer Gemahlin . . .«
»Ach nein, ganz und gar nicht!«, unterbrach Matwej Benzionowitsch den gutmütigen Menschen. »Und es ist viel schlimmer, als wenn ich in betrunkenem Zustand in einem unzüchtigen Haus gewesen wäre. Das wäre einfach eine Schweinerei gewesen, körperlicher Schmutz, aber ich habe Verrat begangen, echten Verrat! Und wie schnell, wie leichtfertig – in einem Augenblick!«
Lew Nikolajewitsch sah seinen Gesprächspartner aufmerksam an und sagte nachdenklich:
»Nein, das ist noch kein echter, kein wirklich schlimmer Verrat.«
»Und was ist Ihrer Meinung nach echter Verrat?«
»Echter, satanischer Verrat ist, wenn man jemanden direkt verrät, Auge in Auge, und wenn einem diese Niedertracht besonderes Vergnügen bereitet.«
»Ach was, Vergnügen!« Berditschewski winkte ab. »Aber was die Niedertracht angeht, so bin ich der niederträchtigste Schuft. Das weiß ich nun, und mit diesem Wissen muss ich leben . . . Ach«, er schüttelte sich. »Wenn ich diesen Augenblick nur wieder
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