Pelbar 2 Die Enden des Kreises
Stel, daß die Tränen einer Mutter das Tier erlösen können. Für einen Pelbarmann sind es die Tränen eines Vaters. Es sind die Tränen, die du um mich weinst. Ich sehe sie. Hätte nie gedacht, daß ein Pelbar jemals um mich weinen würde.«
»Für jeden Menschen, Scule, ist es eine Mutter oder eine Gattin, jedenfalls eine Frau. Das ist etwas, was kein Mann, nicht einmal ein Pelbar, kann. Es ist das Spezialgebiet der Frauen, so sehr sie das auch ab-streiten mögen. Aber mach dir keine Sorgen. Deine Mutter hat oft genug um dich geweint.«
»Weißt du das?«
»Die Familie ist in Nordwall. Sie haben einen Ge-dichtstein aufgestellt. Es wurde viel darum gestritten, aber Nordwall war nicht bereit, ihn wegzunehmen.«
»Was stand darauf?«
»Ich weiß es nicht. Ich bin nie dort gewesen. Aber es muß etwas Gutes gewesen sein, weil es die Dahmens so wütend gemacht hat.«
Scule begann fröhlich zu lachen, mit seinem Alt-männergackern, aber am Ende hustete er Blut.
»Ich werde nach Pelbarigan zurückkehren, Scule, und ich werde ihnen die Geschichte so erzählen, wie du sie mir erzählt hast. Ich verspreche es.«
»Nein. Die Dahmens werden dir genug Schwierigkeiten machen.«
»Trotzdem, wenn ich am Leben bleibe, tue ich es.«
»Aber geh zuerst zum leuchtenden Meer.«
»Zum leuchtenden Meer? Ich werde nach Westen gehen und versuchen, das leuchtende Meer zu erreichen. Jetzt mußt du dich ausruhen. Ich muß dein Fenster besser abdichten. Es ist kalt hier drin. Schau, es kommt noch Schnee herein.«
Stel arbeitete einen großen Teil der Nacht, sowohl am Fenster, das er schließlich mit Steinen aus dem Gefängnisraum verschloß, wie an dem Tier, das er zerlegte, und von dessen dunklem, schwerem Fleisch er Streifen über Scules Feuer trocknete. Gegen Morgen sah er wieder nach dem alten Mann, merkte aber, daß er diesmal nicht schlief. Er war tot.
Stel war auf einmal sehr müde. Er trug die Leiche in die kalte Vorratskammer, wickelte sie ein und ließ sie dort liegen, dann kehrte er zurück, kuschelte sich neben dem Feuer in seinen Schlafsack, legte den Pelz des Tieres über sich und schlief bis Mittag.
Es war kein Wetter, um unterwegs zu sein. Stel ließ sich Zeit, untersuchte Scules Haus und seinen Besitz, brachte den Alten hinunter in den Gefängnisraum und bestattete ihn unter einer Pyramide aus den Steinen, die er selbst so sorgfältig behauen hatte. Der Sturm hatte sich gelegt, aber es war bitter kalt. Stel wagte sich durch das Fenster hinaus. Es war ein Ge-nuß, frei zu sein. Er würde Holz suchen, das sich für Schneegleiter eignete, dann zurückkehren und sich in Scules Heim häuslich niederlassen, bis das Wetter umschlug. Wie anders war doch die Stille draußen im Vergleich zur Stille seines Gefängnisses. Sie tönte von Wind und Zweigen, von grausamer Kälte und der stummen Musik freier Luft und eisiger Berge. Scule, beschloß Stel, mußte ein wenig davon gespürt haben.
Bestimmt.
VIERZEHN
Der Schnee lag bei Scules Haus immer noch tief, als Stel es verließ. Er hatte alle Fallen draußen sorgfältig abmontiert und sich dabei durch Schnee und Eis gegraben. Er hatte das Haus so hergerichtet, daß es für jeden Reisenden offen war, der vielleicht vorbei-kommen mochte. Und neben dem Gefängnisraum, dessen Decke er entfernte und zu dem er aus Steinen eine Treppe hinunterbaute, meißelte er mit einem schweren Holzhammer und dem Kopf eines Stahl-meißels, die er unter Stels Werkzeug gefunden hatte, eine Inschrift ein:
SCULE VON PELBARIGAN, DER AUFBRACH, UM DAS
LEUCHTENDE MEER ZU SUCHEN UND IN DIESEN
BERGEN HALTMACHTE. LEBTE VIELE JAHRE LANG
ALLEIN UND SPRACH MIT NIEMANDEM. GETÖTET
VON EINEM GROSSEN, UNBEKANNTEN T IER, HINTERLÄSST S CULE DIESES H AUS ALLEN, DIE
VORÜBERZIEHEN. ES IST FEST GEBAUT UND WIRD
DEN REISENDEN GANZER EPOCHEN VON NUTZEN
SEIN. WENN IHR AN DIESEM FEUER AUSRUHT, GEDENKT DER GESCHICKLICHKEIT SCULES, DES
STEINMETZES UND SEINER TREUE ZU SEINER
ARBEIT.
STEL DAHMEN AUS PELBARIGAN
Kurz nach seinem Aufbruch stellte Stel überrascht fest, wie wenige Ayas er sich von einer uralten Stadt befand – dort lag recht wenig Schnee, weil sie sich weiter unten jenseits der schmalen Schlucht in den hohen, steilen Bergen befand, wo Scule gewohnt hatte. Es war keine vergiftete, leere Stelle, aber doch eine Ruine, die erste aus uralter Zeit, in der Stel je gewesen war.
Obwohl von Gestrüpp und Wald überwachsen, konnte man immer noch die Anlage der Straßen erkennen. Die Gebäude waren eingestürzt
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