Pelbar 2 Die Enden des Kreises
fertig sind. Ich bin jetzt frei von dir, obwohl du mich noch immer eingesperrt hältst.« Stel lachte, obwohl er vor Kälte zitterte.
»Du bist verrückt.«
Wieder lachte Stel über diese Ironie. »Nein, alter Mann. Da war ein Tier. Ich habe es gesehen, du hast seine Spuren gesehen. Ich meine, ein wirkliches Tier.
Aber es ist nur ein Tier. Das, welches wir fürchten, ist das Tier, das wir selbst sind. Es ist das Tier, das unsere Mütter auslöschen, wenn sie uns als Kindern verzeihen und ihre Tränen auf uns fallen lassen. Und als Männer müssen wir uns selbst verzeihen. Verzeih dir selbst, Scule! – Und gib mir etwas zu essen.«
»Es ist mitten in der Nacht.«
»Trotzdem bin ich hungrig. Gib mir zu essen!«
»Du bist verrückt.«
»Und du bist unschuldig. Gib mir jetzt zu essen!«
Von oben war ein leises Rascheln zu hören, aber nach einiger Zeit erschien ein kleines Licht, und durch das Loch wurde ein Eintopf heruntergelassen, zusammen mit heißem Tee. Stel nahm alles in Emp-fang, dankte Scule und aß langsam und mit Genuß.
»Das war gut. Köstlich. Wie wäre es jetzt mit einer alten Decke? Du kannst doch sicher eine erübrigen.
Ich erfriere hier unten. Wenn meine Decke kommt, wird viel von dem Teufelstier von dir weichen.«
»Du bist verrückt«, sagte Scule noch einmal. Aber er zwängte einen Umhang aus kleinen, zusammengenähten Tierfellen durch das Loch.
»Ich danke dir noch einmal«, sagte Stel. »Und nun gute Nacht. Mögest du in Sicherheit und im Troste Avens ruhen.«
Stel legte sich nieder. Jetzt hatte er wenigstens ein Ziel. Er würde tun, was er konnte, um diesen alten Mann zu unterhalten, zu belustigen, zu erziehen und zu heilen. Vielleicht konnte er sich damit auch selbst retten. Aber er hatte sich, ohne es zu merken, von seinem eigenen Schuldgefühl befreit. Wenigstens größ-
tenteils. Schließlich war er in einer Pelbargesellschaft, so klein und sonderbar sie auch sein mochte. Er wollte sehen, ob er den Alten von der langen Erinnerung an die Grausamkeit der Dahmens und an seine eigene Schwäche befreien konnte.
In den folgenden Tagen und Wochen beschäftigte sich Stel nicht nur damit, Latten aus seinen Schneegleitern zu schneiden, um daraus Trommelstöcke zu machen, mit denen er Rhythmen auf den Steinboden schlug, er überredete Scule sogar, ihm Material für eine zweite Flöte herabzulassen. Da kein Bohrer und auch kein Markholz zur Verfügung stand, brachte Stel Scule dazu, mit heißem Metall ein Loch in den Flötenschaft zu brennen, dann formte er das Instrument, machte die Fingerlöcher hinein, schnitt es genau zurecht, prüfte es und gab schließlich dem alten Mann Unterricht.
Gelegentlich, wenn Scule verlangte, er solle zugeben, von den Dahmens beauftragt zu sein, wurde das Verhältnis wieder gespannt. Aber Stel wußte, daß das etwas Endgültiges war und daß Scule, wenn er jemals den Eindruck gewinnen sollte, daß seine Einbildung von Stel sich bewahrheitete, wahrscheinlich fortgehen und ihn verhungern lassen würde. Also brachte er sein Geständnis so bereitwillig an, daß Scule wußte, es war nur so dahingesagt. Mit der Zeit merkte Stel, daß der alte Einsiedler an seinen langgehegten Mythos, die Dahmens würden ihn erwischen, selbst nicht mehr glaubte.
Der Winter hielt an, aber Stel fror jetzt nicht mehr so. Er erklärte sich bereit, dem Alten ein Paar Pelzfäustlinge zu nähen, wenn Scule ihm das Material gab, sich selbst ein Paar zu machen. Mit der Zeit machte Stel auch Socken für beide mit Pelzfutter.
Aber er war nicht frei. Eines Nachts schnallte er die schmalen Überreste seiner Schneegleiter nahe an den Enden zusammen und versuchte, die Schlüsselsteine beim Deckenloch seines Zimmers zu erreichen. Aber die Stäbe waren nicht lang genug. Er konnte keinen Druck ausüben. Vorsichtig baute er die improvisierte Vorrichtung auseinander. Ihm fiel nichts anderes ein, obwohl er unaufhörlich über das Problem nachdachte.
Der Winter wurde strenger. Stel überredete Scule, das hohe Fenster mit einem Sack voller Blätter zuzu-stopfen, aber dadurch wurde der Raum so verdunkelt, daß er in ständige Nacht getaucht zu sein schien.
Scule sagte ihm, daß der Schnee wie gewöhnlich fast bis zur Höhe des Fensters angeweht sei. Der Alte war an solche Winter gewöhnt und verbrachte einen gro-
ßen Teil der warmen Jahreszeit damit, sich darauf vorzubereiten, aber die endlose Kälte, der Wind und der Schnee entsetzten Stel und vertieften seine Isolation.
Eines Tages, gegen Abend,
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