Pelbar 6 Das Lied der Axt
das.
Wir wissen es, weil wir sie alle so schnell aufgegeben haben, als sich eine neue Möglichkeit eröffnete. Aber sie hatte auch ihre guten Seiten. Ich hätte das hier auf keinen Fall missen mögen.«
»Das hier? Du hättest das hier nicht missen mö-
gen?«
»Nein.«
Tristal blickte hinaus in die graue Landschaft, den vom Wind gepeitschten Regen, den brodelnden Bach unter ihnen. Er fühlte sich entmutigt, fast verzweifelt.
Tor hatte zugegeben, anormal zu sein, als er mit dem überlebenden Shumai gesprochen hatte. Tristal fragte sich allmählich, ob er sich von einem wirklich fremden Menschen in völliges Elend führen ließ.
»Ehe du über meine Worte urteilst, denk wenigstens einen Viertelnachmittag darüber nach«, sagte Tor.
Raran knurrte. Jenseits des Flusses, im treibenden Regen konnten sie Gestalten sehen – Tiere, die am Rand des Bachbetts entlang nach Norden trabten. Die Tiere rochen das Feuer und drehten sich um, fielen in Schritt, blieben stehen. Sie waren fast so groß wie Wildrinder. Ihr Zottelhaar wurde von den Böen hochgewirbelt. Sie hielten den Kopf gesenkt. Hörner schwangen sich seitlich nach unten und wölbten sich nach außen. Eines der Tiere schniefte laut, alle drehten sich um und trabten schwerfällig nach Osten davon.
Tristal war es, als sei sein Gefühl für die Fremdar-tigkeit dieser Gegend plötzlich lebendig geworden.
Er wandte sich an Tor und sah, daß die Augen seines Onkels leuchteten.
»Was waren das für Tiere?«
»Ich weiß es nicht. Aber sie sind an die Kälte ge-wöhnt. So viele Haare. Das gäbe einen Wintermantel!
Ich hoffe jedenfalls, daß das eines zu bedeuten hat.«
»Was?«
»Daß wir jetzt in ein neues Land kommen. Vielleicht in Disdans Eisland.«
Tristal starrte in den Regen, die eingefädelte Nadel und den weichen Stiefel müßig in den Händen. Raran grub ihre Nase unter seinen Arm. Tor rutschte zur Seite, und Tristal sah, daß er die Augen geschlossen hatte und ein entrückter Ausdruck auf seinem Gesicht lag.
Der nächste Morgen dämmerte klar, die Luft war reingewaschen und kühl. Als Tristal erwachte, wik-kelte Tor schon sorgfältig Streifen von Trockenfleisch in das weiche Leder seines Essensbeutels.
»Bereit zum Aufbruch?«
»Kein Grund, hierzubleiben«, erwiderte Tristal.
Wie sich herausstellte, fanden sie an diesem und auch am nächsten Tag nichts Neues. Der dritte brachte wogendes Land und ein paar Felsnasen. Weit im Norden sahen sie noch mehr von den fremdartigen Tieren grasen. Auf höheren Erhebungen erschienen Kiefern und Fichten. Am Nachmittag blickte Tristal nach vorne und sagte: »Sieht so aus, als hätten wir wieder eine Kette von Unwettern vor uns.«
Am Horizont schimmerte mattes Weiß, das über der Landschaft schwebte. Tor blinzelte. »Mmmmm!«
Tristal wirbelte herum und schaute noch einmal hin. »Eis? Ist das das Eis? Sollen wir da hinüber?« Als er sich an seinen Onkel wandte, sah er, daß der lachte.
»Wer weiß? Wir gehen erst mal hin und sehen es uns an.«
Tor lag auf dem Bauch in den Felsen und schaute hinunter auf eine kleine Gruppe von Menschen, die um ein Lagerfeuer saßen. Sie waren weitere zwei Ta-ge unterwegs gewesen, das Eis im Nordwesten wuchs allmählich vor ihnen. Das Gelände war rauher und höher geworden. Dann hatten sie eine Rauchfahne gesehen und waren in den Felsen in Deckung gegangen, Tor hatte sich langsam nach vorne geschoben, um zu sehen, was los war.
Unten saß ein alter Mann, umringt von drei Kna-ben und einer jungen Frau am Feuer. Er hielt ein dik-kes Stück Leder auf seinem Knie, darauf hatte er einen großen Steinsplitter, den er gegen seinen Schenkel preßte, während er mit einem langen Knochen-werkzeug daran arbeitete und ihn formte. Rings um ihn verriet ein Haufen Steinscherben, wie lange er schon an solchen Werkzeugen arbeitete.
Einer der Jungen half der Frau beim Kochen. Die anderen spielten das Shumaispiel ›Na, na‹. Aber sie waren anders als alle Shumai, die Tor kannte. Sie waren kleiner und von dunklerem Typ, obwohl das geflochtene Haar des Mädchens in der Sonne blond schimmerte.
Der Alte hielt das Stück hoch, an dem er arbeitete, und betrachtete es blinzelnd. Dann blies er darauf. Er wischte sich die Hände ab, hob ein Knochenstückchen auf und rieb damit die Kanten des Werkstücks ab. Dann fing er wieder an, mit leisen, klickenden Ge-räuschen die Kanten des Steins zu behauen. Tor war fasziniert. Daneben lagen zwei Speere – Schäfte mit hohlen Enden – und ein kleiner Stapel
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