Pelbar 6 Das Lied der Axt
Ich will nicht behaupten, daß ich sie zittern ließ.
Aber als ich sah, daß sie zitterten, wußte ich, warum.«
»Wozu soll das gut sein?«
Tor lachte. »Es verriet mir, daß ich nicht einfach alt werde.« Er legte den Arm um Tristal, aber sein Neffe schüttelte ihn ab. »Dann haben sie dich also schon?«
fragte Tor sanft. Tristal schaute ihn erstaunt an.
Die gesamte Bevölkerung von Sedge ging am frühen Morgen zur Eisfassade, ein Marsch von ungefähr drei Ayas. Nahe der Fassade war der Boden durchweicht und triefte vom Schmelzwasser. Die Eisfläche war nicht glatt, wie Tor erwartet hatte, sondern eine An-einanderreihung komplizierter, abbröckelnder Käm-me, von Rinnen durchzogen wie erodiertes, trockenes Land, gelegentlich fielen polternd und krachend riesige Brocken herunter. Das Eis selbst schien blaugrün zu leuchten.
Die Priester hatten sich für die Zeremonie eine vergleichsweise stabile Eismasse ausgesucht. Seit einiger Zeit hatten sie und ihre Lehrlinge Stufen in das Eis gehauen, bis weit in die steile Schulter der großen Masse hinauf, so daß Gestalten oben wie kleine, dunkle Samenkörner aussahen. Zwei Fluggeräte waren schon oben, als die Menge anlangte und sich auf einer kleinen Anhöhe gegenüber dem Eis aufstellte.
Eine Gruppe von zwölf Priestern saß in einer Reihe und sang schon leise und monoton einen Text, der für Tor keinen Sinn ergab. Über diese sonderbare Kol-lektivstimme erhob sich ein hoher, schweifender Frauensopran, aber auch davon konnte Tor kein Wort verstehen.
Plötzlich hörte, auf ein Zeichen des Oberpriesters, das Singen auf. Der Priester hob die Hände und rief: »Meine Kinder. Wieder einmal sind wir hier ver-sammelt, um zu zeigen, daß wir Meister von Eis und Himmel sind. Es ist unsere Pflicht, hierzubleiben, um Eis von übrigem Land fernzuhalten. Nur wir können das, durch unsere Ausbildung und Fähigkeiten und durch Tatsache, daß Eis uns fürchtet und daher zu-rückweicht. Wir haben heute besondere Gelegenheit, unseren Besuchern zu zeigen, wie groß unsere Macht ist. Es ist Tatsache, daß Segler durch Hingabe von Priestern Luft und Himmel beherrschen. Dabei ist große Gefahr. Ihr werdet sehen. Laßt Gesang wieder anheben! Alle anderen schweigen!« Als der Gesang von neuem angestimmt wurde, lauter als zuvor, konnte man kaum hören, wie der Oberpriester rief: »Beginnt mit Segeln!«
Hoch oben auf der Eisfassade wurde eine Gestalt unter breite, V-förmige Flügel aus dünner, abgeschabter, rot und gelb bemalter Tierhaut geschnallt.
Wieder hob der Priester die Hände, und die Gestalt stürzte sich vom Eis herunter, sank schnell herab, schwang sich dann plötzlich aufwärts, wandte sich wieder dem Eis zu, stieg, glitt an der senkrechten Flä-
che entlang, drehte sich wieder, stieg, kreiste in trä-
gen Bögen wie ein Geier, gewann an Höhe, segelte vom Eis weg auf Sedge zu, glitt in den gleichen, trä-
gen Kreisen wieder zurück, stieg höher, kam dann in weiten Spiralen herunter und landete leichtfüßig in der Nähe der Priester. Während der ganzen Zeit studierte Tor die Techniken und das Muster des Fluges.
Die Menge schrie und tanzte und bildete einen Kreis um den Flieger und die Priester, sie nahm den Singsang der Priester auf, marschierte und schwenkte die Arme. Die Feier ging einige Zeit weiter. Dann wiederholte ein zweiter Mann den Segelflug.
Tor versuchte, nahe an die Fluggeräte heranzu-kommen, aber die Tradition verlangte, daß sich die Menge davon fernhielt.
Tristal sah, wie er die Flügel unverwandt betrachtete. »Was? Was ist?« fragte er.
»Wie? Ach, ich möchte nur sehen, wie sie gemacht sind. Und ich schätze die Abmessungen ab.«
»Es ist erstaunlich, Tor. Es ist, wie sie sagen. Sie sind wirklich geflogen.«
»Ja. Das wollte ich schon immer, wenn ich Falken beobachtete.«
»Ich möchte gerne ein Priester des Eises sein und auch fliegen. Dafür würde es sich lohnen, hierzubleiben, Tor, um so zu fliegen.«
Tor schaute ihn prüfend an, dann schloß er die Augen. »Denk nach, Tris, denk scharf nach! Brauchen die Vögel Priester?«
»Aber das sind keine Vögel. Das sind Menschen.«
»Mit Flügeln, die sie gemacht haben. So. Ich möch-te, daß du die Flügel so sorgfältig studierst, wie nur möglich, damit du sie aufzeichnen kannst, wenn es nötig ist. In allen Einzelheiten. Auch die Abmessungen, soweit du sie schätzen kannst.«
Tristal machte ein angewidertes Gesicht. Tor packte ihn am Arm und schüttelte ihn kräftig. »Ich wußte nicht,
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