Pelbar 6 Das Lied der Axt
»Aber du bist ein Shumai«, sagte er. »Du weißt, wie man sich benimmt. Er ... er ist nur ein schwer verletzter, junger Bursche. Er versuchte, für seinen Freund tapfer zu sein.« Tor legte den Stumpf seines rechten Arms über Roland Thebeaus Seite.
»Kümmere dich nicht um mich!« sagte der Verletzte.
»Du mußt lernen, daß man sich um jeden kümmern muß«, sagte Tor. »Um jeden. Sogar um Emily.
Denk nur, was dir das alles erspart hätte.«
»Tais-toi, chameau«, murmelte Roland.
»Schon wieder ›Schamo‹. Ah. Da sind die Männer des Sheriffs. Schon.«
»Wo?«
»Hör nur! Na, Tris, sind wir nun die Jäger oder das Wild?«
FÜNFZEHN
Emily starrte auf das hohe Fenster in ihrem Zimmer, einem großen Raum mit Wänden aus behauenem Stein, an denen dicke Wollteppiche hingen. Sie spielte mit dem Gerstenbrot auf ihrem Teller, seufzte, trank einen kleinen Schluck Fichtentee, würgte und setzte sich in ihrem hochlehnigen Stuhl zurück.
Ihr Vater trat ins Zimmer. »Emily«, sagte er leise und setzte sich ihr gegenüber. Sie blickte auf, dann schaute sie in ihren Schoß. »Deine Mutter sagt, du bist schon wieder barsch gewesen. Das dauert nun lange genug. Du mußt dich aufrichten. Es ist keine Schande. Jeder weiß das.«
»Du hast sie ins Gefängnis gesteckt.«
»Wen? Die Frauenräuber? Der Nordsektor wird sie holen, sobald das Wetter sich bessert. Sie müssen bestraft werden. Wenn du das in der Öffentlichkeit sagst, werden alle glauben, du hättest sie verführt.«
»Sie verführt? Wer würde das sagen! Die meine ich nicht. Ich meine die Wilden.«
»Ach so. Die. Was sollte ich sonst tun? Was sollen wir mit ihnen anfangen? Sie passen nicht zu uns. Man kann sie nicht frei rumlaufen lassen. Es war peinlich genug für den Sheriff, daß sie direkt zu dir gegangen sind. Als ob sie jemand hingeführt hätte.«
»Deshalb hast du sie doch geholt! Du hast es ihnen versprochen.«
»Ich habe nur versprochen, ihre Freilassung in Betracht zu ziehen. Nur in Betracht zu ziehen.«
»Warst du in letzter Zeit draußen in der Stadt?«
»Nein. Zuviel Arbeit. Warum?«
»Mutter schon. Sie verteidigt dich. Aber sie hat gesehen, wie ihr die Leute den Rücken zudrehen.«
»Den Rücken zudrehen? Das lasse ich mir nicht bieten. Sie soll mir nur ein paar Namen nennen.«
»Namen? Willst du den ganzen Ort einsperren? Ich würde mich in Grund und Boden schämen.«
Sektorenrichter Fenbaker dachte kopfschüttelnd nach. »Nach allem, was ich für dich getan habe. Im gräßlichsten Wetter bin ich sie holen gegangen und alles.«
»Der Junge wäre fast getötet worden, hätte er nicht den Schild seines Onkels gehabt, und das hättest du weggesteckt, ohne auch nur einen Gedanken daran zu verschwenden. Aber es ist ja nur ein Wilder.
Macht nichts. Die Wahrheit ist, daß du nicht weißt, was du mit ihnen anfangen sollst.«
»Nein. Das weiß ich auch nicht. Zum Teil wegen Morton. Zum Teil auch wegen Dupin. Er will kommen, weißt du. Er ist wütend wegen Roland Thebeau.
Wie geht es ihm eigentlich? Hast du etwas gehört?«
»Besser. Aber richtig gehen wird er nicht mehr können, sagt man. Er ist ein Risiko eingegangen, wirklich. Keine Frage. Ohne ihn wäre Claude nichts.
Wäre das nie passiert. Laß mich nur mit Dupin sprechen. Ich werde ihm die Ohren verbrennen. Wenn ich mir vorstelle, daß Tristal wieder Steine schleppt ...«
Fenbaker zögerte, schaute seine Tochter an und sagte leise: »Und der ältere?«
»Tor? Er auch. Natürlich.« Sie blickte ihren Vater an. »Nichts dergleichen. Schau mich nicht so for-schend an, Vater. Aber er ist so ... unabhängig. Er ist ... weit weg. In einer anderen Welt.«
»In was für einer Welt?«
»Er ... er will scheinbar gar nichts. Nur sehen. Wissen. Er will einfach alles wissen. Er war es, der sie zu mir geführt hat.«
»Davon hat mir der Sheriff erzählt. Nichts Geheim-nisvolles. Er hat es sogar erklärt. Hat sich in die Gedankengänge von denen aus dem Nordsektor versetzt.«
»Und warum hat der Sheriff das nicht getan?«
Fenbaker überlegte. »Das konnte er nicht. Das konnte er einfach nicht. Später war alles so klar. Er dachte darüber nach, als sie weggingen. Irgendwann ist er umgekehrt, weißt du. Er war auf dem Weg.«
Emily stampfte mit dem Fuß auf. »Vater, du weißt, wenn es nach ihm gegangen wäre, läge ich noch immer da oben im Eis, und dieses Käsegesicht käme jeden Tag zweimal, um mich zu bestei...«
»Emily!«
»Sei doch ehrlich. Du hast zwei Männer geholt, die mich
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