Pellkartoffeln und Popcorn
sonst immer die schmutzige Wäsche packten, vernagelte sie innen mit Blech, entriß Tante Else zwei alte Kopfkissen und die Steppdecke, aus der schon der Inhalt ein wenig herausquoll, und als er das ganze Zeug in die Kiste gestopft hatte, blieb kein Platz mehr für die Kochtöpfe. Also noch mal von vorn: Steppdecke durchschneiden, einen Teil davon innen an den Deckel nageln, Kopfkissen halbieren – die Federn holten wir noch Wochen später von der Gardinenstange herunter –, Kiste sorgfältig auspolstern, und dann müßte es eigentlich hinhauen. Wenn die Kartoffeln um zehn Uhr angekocht und dann in die Kiste gestellt wurden, waren sie tatsächlich um ein Uhr manchmal schon gar. Meistens nicht. Gemüsesuppe dauerte länger, Hülsenfrüchte wurden nie weich! Zum Warmhalten war der Hilfskochherd aber recht gut geeignet. Wenn ich später aus der Schule kam, konnte ich mir mein Mittagessen immer aus der Kiste holen. Hin und wieder aber auch aus dem Bett, wenn nämlich in der ›Grude‹, wie dieses Möbel offiziell hieß, schon das Abendessen ›kochte‹.
Tante Else wickelte dann den Topf in mehrere Lagen Zeitungspapier, außen kam ein Handtuch drum, und dann verschwand alles unterm Federbett.
Im übrigen waren wir froh, wenn wir überhaupt etwas zum Kochen hatten. Das, was es auf Lebensmittelkarten gab, hätte man leicht innerhalb von drei Tagen verbrauchen können; leider mußte es eine Dekade lang reichen. Wir lebten also von Dekade zu Dekade, sprich vom Ersten eines jeden Monats bis zum 10., vom 11. bis zum 20. und vom 21. bis zum 30. Verhaßt waren die Monate mit 31 Tagen. Dabei kamen wir noch halbwegs über die Runden, weil sowohl Mami wie auch Onkel Paul eine Angestellten-Karte hatten, und ich die für Kinder unter fünfzehn. Nur Tante Else war Normalverbraucherin. Man hatte Onkel Paul eine vorzeitige Pensionierung angeboten, denn er würde kurz nach Weihnachten 65 und käme dann automatisch in den Ruhestand, aber das lehnte er schlichtweg ab. In der Reichsbahn-Verwaltung gab es zwar noch immer nicht genügend zu verwalten, aber schließlich war er Beamter und als solcher bekanntlich unkündbar. So durfte er zusammen mit anderen Kollegen die ehemaligen Durchhalteparolen von den Waggons abschrubben. Wenn er mal wieder an einer Lokomotive herumgescheuert hatte, um die erstaunlich haltbare Inschrift ›Räder müssen rollen für den Sieg‹ zu entfernen, jammerte Tante Else, weil sie die total verdreckten Hemden nicht mehr sauber bekam. Waschpulver gab es nur am Schwarzmarkt.
Der entfaltete sich dafür zu voller Größe. Es gab bestimmte Zentren, wo mehr oder weniger offen auf der Straße gehandelt wurde. Dann gab es irgendwelche Ecken, wo man sich auf einige wenige Artikel wie Seife, Nägel oder Fensterscheiben spezialisierte. Aber im allgemeinen hatte man damals ›seinen‹ Schwarzhändler, der auch Sonderwünsche nach Nähnadeln oder Briketts erfüllen konnte. Unserer hieß Wildenhof und war weiblich. Nach außen hin führte sie einen Mittagstisch. Zumindest hatte sie das während des Krieges getan, als sie Bankbeamte und ein paar Angestellte der örtlichen Wohnungsbaugenossenschaft im Abonnement verköstigt hatte. Das Schild ›Öffentlicher Mittagstisch, preiswerte solide Hausmannskost‹ stand zwar immer noch im Fenster; aber schließlich mußte ja eine plausible Erklärung für den regen Kundenverkehr gefunden werden. Im übrigen war allgemein bekannt, daß Frau Wildenhof ›schob‹. Sie muß auch über weitreichende Beziehungen verfügt haben, denn trotz mehrmaliger polizeilicher Razzien hat man nie etwas Verdächtiges gefunden.
Ich lernte Frau Wildenhof zum erstenmal kennen, als Mami bei ihr Nähseide bestellte. Tante Else wollte nach bewährter Methode aus zwei mir zu klein gewordenen Sommerkleidern ein passendes zusammenstückeln und besaß nur noch mehrere Rollen schwarzen Zwirn, den man auch beim besten Willen nicht für einen hellgrünen beziehungsweise rosa-weiß-karierten Stoff verwenden kann.
»Geht man da so einfach hin und verlangt die Sachen?« Ich hatte mich bisher noch nicht in Schwarzhändlerkreisen bewegt.
»Natürlich nicht«, sagte Mami, »man muß von irgend jemandem eingeführt worden sein. Aber ich war schon öfter hier. Was glaubst du denn, woher die fünf Kerzen stammen, die ich neulich mitgebracht habe?«
Frau Wildenhof war eine in roten Samt gehüllte, sehr füllige Dame mit sorgfältig ondulierten Haaren, zwei nicht gerade unauffälligen Ringen an jeder Hand und einer
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