Pelte, Reinhard
handwerklichen Klasse, ihrer tiefen Spiritualität und ihrem hohen, selbstverständlichem Anspruch schieden sich die Geister, und die Spreu trennte sich vom Weizen. Er schämte sich, wenn er auf seiner Geige versuchte, die Musik der alten Meister zu spielen.
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Jung hatte sich Gedanken gemacht, wie er seinem Wunsch nach einem gelungenen Weihnachtsfest auch ohne Talent auf der Geige nahekommen könne. Dazu fiel ihm erst einmal ein, den Rummel nicht mitzumachen. Er hatte mit Svenja des Öfteren diskutiert, ob sie über Weihnachten nicht alle zusammen in den Schnee, nach Norwegen oder in die Alpen fahren sollten. Aber war das eine Lösung? Es wäre bequem gewesen, gab Jung zu. Doch wer weiß, vielleicht wären sie vom Regen in die Traufe gekommen. Die Wahrscheinlichkeit dafür war groß. Letztlich hätten sie sich eine solche Reise zu viert gar nicht leisten können, ohne jeden Euro zweimal umdrehen zu müssen. Das hätte die Freude am Reisen mit Sicherheit halbiert.
Außerdem sträubten sich ihre Kinder mit Händen und Füßen dagegen. Sie wollten unbedingt einen eigenen Weihnachtsbaum mit Kerzen und vielen Geschenken darunter, am ersten Weihnachtsfeiertag lange ausschlafen, danach mit ihren Freunden zusammen sein oder telefonieren. Oma und Opa sollten kommen, und sie wünschten sich, dass Mama ein ordentliches Festessen auf den Tisch brachte. Sie liebten den Duft von Papas bester Davidoff, wenn sie nachmittags nach der Kaffeerunde mit ihren Freunden oder den Alten eine Runde Siedler von Catan spielten.
Dieses Jahr verbrachten sie Heiligabend allein. Ihre Tochter Cara ging in Japan zur Schule. Und Clemens kam erst sehr spät am Heiligabend mit seiner Freundin aus dem Studium (sie hatten bis zum Mittag noch im Supermarkt arbeiten müssen). Jung freute sich, Svenja mit seinem Geschenk in sprachloses Erstaunen und in Verzückung versetzt zu haben. Später holten sie dann ihren Sohn vom Bahnhof ab. So gestalteten die Umstände das Fest in diesem Jahr anders als in den Jahren zuvor. Jung hatte es nicht schlechter gefallen als sonst, obwohl er seine Tochter vermisste. Und er war auch genauso froh wie sonst, als es vorbei war.
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Jung erreichte zu Weihnachten eine Grußkarte seines ehemaligen Klassenkameraden Immo Tammen. Sein Erstaunen darüber hätte nicht größer sein können, als wenn seine verstorbene Mutter sich bei ihm gemeldet hätte. Schon in der Schule hatte Jung wenig mit ihm zu tun gehabt. Er erinnerte sich an ihn als einen exzentrischen, oberflächlichen Zeitgenossen, mit dem er wenig gemein zu haben glaubte. Aus heutiger Sicht fragte er sich, wer von ihnen beiden exzentrischer und ob sein Urteil nicht eher von einem uneingestandenen Neid auf Immos Unbeschwertheit diktiert gewesen war als von nüchterner Sachlichkeit.
In einem kurzen Begleitbrief lud Immo ihn für das Silvesterwochenende nach Husum ein. Er sei auf die Idee gekommen, alle ehemaligen Klassenkameraden anlässlich ihres anstehenden Abiturjubiläums zusammenzubringen. Er habe alle bis auf zwei, deren Adressen nicht aufzuspüren waren, ausfindig machen können und lade sie allesamt nach Husum, in sein Hotel ein. Als Jung den Namen des Hotels las, war er erneut heftig erstaunt. Sein ehemaliger Klassenkamerad war derjenige, der ihre alte Schule erworben und in das beste Hotel am Platz verwandelt hatte. Er war also schon seit Jahren sein Nachbar, wenn auch ein etwas entfernter. Jung hatte davon nichts geahnt. Immo teilte offensichtlich Jungs Berührungsängste nicht, sondern hatte aus der alten Schule das Beste gemacht. Ihm imponierte das, und er musste nicht lange überlegen, ob er der Einladung Folge leisten solle oder nicht. Außerdem führte ihn das Klassentreffen genau dahin, wohin ihn die Arbeit an seinem Fall sowieso gebracht hätte.
Die Einladung war nicht die einzige Auffälligkeit am Ende dieses Jahres geblieben. Wie von Jung vorausgeahnt, hatte es über die Festtage länger geregnet und die Temperaturen waren angestiegen bis auf Werte, die keinen Gedanken an Winter aufkommen ließen. Als Jung nach den Festtagen, am frühen Morgen seines ersten Arbeitstages sein Auto aus dem Carport fahren wollte, waren die Scheiben von innen so dicht beschlagen, dass er sich die Mühe machen musste, ein trockenes Fensterleder herbeizuschaffen, um die Scheiben wieder trocken und durchsichtig zu machen. Es war ungewöhnlich warm, ja fast tropisch schwül. Der lebhafte Nordwestwind, der normalerweise zu dieser Zeit eine frische aber relativ
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