Pelte, Reinhard
milde Nordseeluft ins Land blies, stellte sich dieses Jahr nicht ein. Es wehte ein mäßiger Wind aus Südwest, der eine ganz und gar unwirkliche Atmosphäre heraufbeschwor.
Als Jung sein Auto im Hof der Polizei-Inspektion abgestellt hatte und den Eingang zum Treppenhaus betrat, begrüßte ihn Petersen aus seiner Wachstube.
»Moin, Herr Oberrat. Schöne Festtage gehabt?«
»Moin Petersen, ja danke. Und selbst?«
»Na ja, ging so. Bei dem Wetter kommt ja keine Stimmung auf. Da denkt man doch an sonst was, nur nicht an Weihnachten.«
»Ja, merkwürdig warm ist es dieses Jahr. Und sonst?«
»Ihre Urkunde und der Orden sind gekommen. So fühlt sich der Umschlag jedenfalls an.«
Petersen reichte ihm einen braunen DIN-A4-Umschlag durch die Scheibe.
»Dann wird sicher die Champagnerrechnung dabei sein. Schöner Anfang.«
»War doch für eine gute Sache, Herr Jung. Besser als ein Strafzettel für zu schnelles Fahren.«
»So kann man das natürlich auch sehen. Schönen Tag, Petersen.«
»Danke ebenso, Herr Oberrat.«
Jung stieg die Treppen hinauf in den ersten Stock und öffnete die Tür zu seinem Büro. Es war ungewohnt ruhig im Haus. In den Tagen bis nach Neujahr hatte die Polizei in der Regel Hochkonjunktur. Dieses Jahr nicht. Und Holtgreve hatte sich offensichtlich die Tage zwischen den Jahren frei gehalten und Urlaub eingereicht. Jung war es recht.
Zuerst rief er in Husum an, um Immo für das Treffen über Silvester zuzusagen. Der Herr Direktor war zwar im Haus, aber im Moment nicht zu erreichen. Jung bat seine Sekretärin um Rückruf, sobald der Herr Direktor frei sei.
Dann widmete er sich noch einmal dem Aktenstudium. Seine Kollegen hatten ein Sexualdelikt mit tödlichem Ausgang im Blick gehabt, als sie den Fall des spurlos verschwundenen Mädchens untersuchten. Diese Vermutung war nach Lage der Dinge nicht von der Hand zu weisen. Auch Jung dachte noch vor der Durchsicht der Untersuchungsergebnisse in diese Richtung. Bei so einem Verbrechen lag immer dieser Verdacht sehr nahe. Nach dem Studium der Akte hatten ihn aber die Untersuchungsergebnisse davon überzeugt, dass in dieser Richtung nicht der Hauch eines Anhaltspunktes auszumachen gewesen war. Die Recherchen waren umfangreich und überzeugend gewesen. Jung sah es als zwecklos an, hier weiterzumachen. Er musste völlig unvoreingenommen und mit mikroskopischem Blick an die Sache herangehen.
Ihm war in den Sinn gekommen, die unmittelbare Nähe des Mädchens, außerhalb ihrer Familie, nach besten Freundinnen oder Freunden zu durchforsten. Nach der ersten Durchsicht der Protokolle war diesbezüglich nichts in seinem Gedächtnis haften geblieben, was ihm anfänglich unnatürlich vorkam. Und auch jetzt, nachdem er die Akte gezielt daraufhin durchgelesen hatte, konnte er nicht fündig werden. Die Klassenkameradinnen und -kameraden waren befragt worden. Ihre Aussagen blieben aber ungewohnt unverbindlich und zurückhaltend. Sie hatte keine beste Freundin gehabt und die Jungen in ihrer Klasse schienen sie kaum gekannt zu haben. Was mochte dahinterstecken? Die Antwort lag eigentlich nahe. Nur seine Skepsis gegenüber vorschnellen Schlüssen hatte ihn neben anderen Gründen bewogen, noch einmal gründlich die Akte durchzugehen. Kinder, die bei Lehrern und Erwachsenen auf offene Zuneigung stoßen, haben es in der Regel schwer, bei ihren Altersgenossen auf Anerkennung und Gegenliebe zu stoßen. Neid und ein uneingestandenes Minderwertigkeitsgefühl hindern sie daran. Ein Mädchen, das leidenschaftlich gerne Klavier spielte und dafür Zeit und Kraft aufbrachte, war für alle, die nichts Vergleichbares auf die Beine brachten, ein Menetekel der eigenen Unzulänglichkeit. Ihr Verhalten ihr gegenüber war Ausdruck der Verdrängung dieses unangenehmen Gefühls. Jung überlegte kurz, ob Neid und Missgunst als Motiv ausreichen würden, eine Mitschülerin zu töten. Er verwarf diesen Gedanken sehr schnell. Der Täter oder die Täterin hätte in diesem Fall genau die Eigenschaften haben müssen, deren Mangel sie so fürchterlich peinigte: nämlich Eigeninitiative, Arbeitsbereitschaft, Fantasie und Energie. Nein, nein, ein Typ, der eine solche Tat geplant und in der Lage gewesen wäre, sie durchzuziehen, hätte sein Opfer eher zur Freundin gehabt. Ein Verbrechen im Affekt lag näher. Aber in diesem Fall hätte der Täter danach sehr cool und verdammt clever die Spuren verwischt, und das erforderte die vollständige Abwesenheit jeder Affektation. Seine Überlegungen verwirrten
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