Pelte, Reinhard
mit nur einer Tür auf der Fahrerseite. Aus Übermut und als Reaktion auf die pädagogischen Bemühungen des Lehrkörpers hoben sie eines Tages das Gefährt an, drehten es um und stellten es mit der einzigen Tür dicht vor die Wand des Fahrradschuppens. Er konnte sein Auto nicht mehr besteigen. Jung hatte Angst und einen kindischen Spaß gehabt.
Wie waren die jüngeren Lehrer? Jung erlebte sie als die Banner- und Sinnträger der jungen Republik. Voll des guten Willens beim Abfertigen des schlechten, alten Reiches und beim Einpflanzen der guten, richtigen Demokratie in die Köpfe und Herzen ihrer Schüler. Jungs Lehrerin für Deutsch, Geschichte und Gemeinschaftskunde hatte in Frankfurt studiert und war eine Adeptin der ›Frankfurter Schule‹, wie ihm erst später klar wurde. Sie ließ sie über ›Muße und Kult‹ nachdenken. ›Der Held als Mythos‹ und die alten Griechen waren ihr wichtig. Ihre Themen stammten fast alle aus Blochs ›Prinzip Hoffnung‹, was sie aber ihren Schülern verschwieg. Und wenn Jung schon damals und nicht erst viel später auf Bloch gestoßen wäre, dann hätte er sich wegen einer guten Note nicht so schinden müssen. Er hatte bei ihr einen Stein im Brett, weil er eines Tages mit Enzensbergers ›Einzelheiten‹ im Gemeinschaftskundeunterricht aufkreuzte. Es ging um Pressefreiheit, und er fand Enzensbergers Essays über die Sprache des Spiegel und über den Journalismus der FAZ plausibel und einleuchtend. Enzensbergers Sachkenntnis, seine Sprache und sein Geist waren in ihrer engagierten Klarheit und Nüchternheit ungewohnt und stachen wohltuend von dem Qualm und Wortgetöse anderer ab. Das gefiel ihm gut und seiner Lehrerin auch.
Emmi, so ihr Spitzname, ging in ihrer Berufung auf. Sie merkte gar nicht, dass die Jungs eigentlich mehr an ihrer relativen Jugend und an ihrer Einzigartigkeit als Frau interessiert waren. Die Schule war ein reines Knaben-Gymnasium gewesen. Jede Frau, egal wie sie aussah, solange sie nur jung war, umschwirrte das Flair des Außergewöhnlichen. Sie sah nicht wirklich gut aus. Gewiss, sie hatte eine blonde Lockenmähne, die sie öfter mit ihren Händen zu zähmen versuchte, was sehr sexy aussah. Denn das Heben ihrer Arme öffnete ihre Kostümjacke und brachte ihre großen Brüste zur Geltung. Das war ihr aber gar nicht bewusst. Sie war fleischig, hatte einen teigigen Teint und eine Brille, die ihre Augen hervorquellen ließen. Darüber hinaus setzte sie sich oft, während sie bedeutungsvoll und ernst zu ihnen sprach, ungewollt kokett und unbedacht mit nur einer Gesäßhälfte auf die Tischkante und ließ dabei neugierige Blicke unter die knielangen Röcke ihrer Kostüme zu. Von denen besaß sie eine ganze Menge in verschiedenen, nicht sehr kleidsamen, geschweige denn modischen Variationen. Dann und wann stand sie abrupt auf und zog ihre Kostümjacke über ihrer Brust zusammen. Hatte sie vielleicht gespürt, dass ihre Jungs mehr an dem lüsternen Anblick ihrer Schenkel und Brüste als an dem Zusammenhang zwischen Kulturkampf und Aufstieg des Nationalsozialismus in der Weimarer Republik interessiert waren? Sie reagierte niemals darauf, weder mit Blicken und Gesten noch mit Worten.
Sie war verheiratet, hatte aber keine Kinder. Ihr Mann war ebenfalls Lehrer und unterrichtete an der gleichen Schule wie sie. Er hatte über die Ironie in den Werken Thomas Manns promoviert, was er oft erwähnte. Er gefiel sich darin, alles und jedes zu ironisieren. Jung mochte ihn nicht. Er war ein Männchen mit Bauch, wabbelig und blässlich. Ein rotblonder Haarkranz umgab eine fortgeschrittene Glatze. Und seine Augengläser waren von der gleichen Machart, wie die seiner Frau. Sie machten ihm Glubschaugen. Die beiden waren als Paar öfter Gegenstand ihrer Gespräche gewesen, wobei sich Jung kopfschüttelnd fragte, warum Emmi nur mit diesem Scheusal zusammen war.
*
Jung stellte seinen Wecker auf 19.30 Uhr und schlief danach sofort ein. Als es klingelte und er hochschreckte, hatte er das Gefühl, als erwache er aus stundenlangem, tiefem, traumlosen Schlaf. Er rieb sich die Augen und stand wenig später noch etwas benommen auf.
Das gemeinsame Essen war im Clubzimmer des Hotelrestaurants im Souterrain angesetzt. Jung war einer der Ersten und fand Immo damit beschäftigt, den Kellnern letzte Anweisungen zu erteilen und das Arrangement einer kritischen Überprüfung zu unterziehen.
»Was gibt es denn heute Abend Schönes, Immo?« Jung stellte sich neben ihn und bewunderte die
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