Pelte, Reinhard
missliche Lage ihnen abverlangte. Auffällig war, dass keiner von ihnen krank war oder wurde. Nur Immo sorgte für einen schrillen Misston. Sie saßen vor dem Fernseher. Der Bericht über eine historische Schneehochzeit auf Föhr flimmerte über den Bildschirm. Das Paar und die Trauzeugen waren auf dem Weg zur Kirche mehrfach im Schnee stecken geblieben und hatten sich schließlich erschöpft in eine Dorfkneipe gerettet. Der Pastor kämpfte sich zu ihnen durch und traute sie vor der Kneipentheke. Ein Amateur hatte die Zeremonie gefilmt. Joachim glaubte in dem abgezehrten Pastor ihren vermissten Klassenkameraden Udo Harmsen wiederzuerkennen.
»Der sieht doch aus wie Udo als Opa, seht doch mal genau hin.«
»Das ist ja absoluter Quatsch, Jo. Du hast doch Tomaten auf den Augen«, schimpfte Immo aufgebracht. »Wenn er es wäre, dann weiß ich nicht, warum er nicht hier ist. Ich hätte ihn finden müssen. Er wohnt ja fast nebenan. Da wäre ich ihm bestimmt mal begegnet.«
»Wir sind uns ja auch nicht begegnet, Immo. Obwohl ich auch nicht weiter weg wohne«, warf Jung ärgerlich ein. Er verstand Immos verbale Krafthuberei nicht. Sie stieß ihn ab, wie schon seine Reaktion auf die Frage nach Hauke Carl am Silvesterabend. Erneut wäre er gerne Tony Soprano gewesen, der Mittel gehabt hätte, Immo Benehmen beizubringen. In der Folgezeit vermied er es, Immo noch einmal darauf anzusprechen. Das Gefühl, dass Immo etwas mit sich herumtrug, das ihn so belastete, dass die Gegenwart und seine Notwendigkeiten darüber in den Hintergrund rückten, verstärkte sich. Seine sexuelle Präferenz konnte es nicht sein, denn die hatte er ihm bereits freiwillig offenbart.
*
Jung verließ Husum eine Woche später. Die ehemaligen Klassenkameraden hatten sich voneinander verabschiedet mit der Versicherung, in zwei Jahren wieder zusammenzukommen: Diesmal auf einer der Inseln vor der Küste und hoffentlich verschont von einem Schneesturm.
Jung fuhr die B 200 zurück nach Flensburg. Die Straße war geräumt worden. Die Schneeraupe hatte sich durch meterhohe Schneewehen gefräst und rechts und links hohe Wälle aufgetürmt. Die Straße erinnerte ihn an den Kanal von Korinth, aber in Weiß. Obwohl der starke Frost noch immer anhielt, hatten Streusalz und die gleißende Sonne von einem tief blauen Himmel die Schneereste auf der Fahrbahn geschmolzen. Das Schmelzwasser stand in breiten Lachen auf dem Asphalt. Jung beglückwünschte sich dazu, kurz vor Weihnachten die Wischerblätter erneuert zu haben.
Zu Hause hatten ihre Nachbarn und eine Schneefräse Svenja geholfen, die Zugänge zum Haus von den Schneebergen freizulegen.
»Endlich. Wo bleibst du denn, Tomi?«, begrüßte ihn seine Frau freundlich-ironisch. »Nun haben wir für dich nichts mehr zum Schaufeln. Du hast etwas verpasst, mein Lieber.«
Täuschte er sich, oder schwang ein leichter Vorwurf in ihrer Stimme mit?
»Frohes neues Jahr, Svenja.«
»Frohes neues Jahr, Tomi. Komm schnell rein. Es ist immer noch sehr kalt.«
Er trat auf sie zu, und sie küssten sich an der Haustür. Später erzählten sie sich ihre Silvestergeschichten. Svenja war am Abend auf dem Weg zu ihrer Party nicht mehr weit gekommen. Sie hatte rechtzeitig kehrtgemacht und war wieder nach Hause gefahren. Stromversorgung und Telekommunikation waren schon am frühen Abend zusammengebrochen. Sie vermochte noch Brennholz ins Haus zu schleppen und feuerte den Kamin an. Das Dach arbeitete in dem Sturm schwer und machte Geräusche, die sie in Panik versetzten. Sie hatte tatenlos und mit zunehmendem Entsetzen erleben müssen, wie das Haus langsam zuschneite. Nach hinten heraus, über der Terrasse, türmten sich nach wie vor meterhohe Schneewehen und verdeckten den angrenzenden Teich. Mächtige Schneebretter wölbten sich über die Dachüberstände und Regenrinnen.
Die Sekretärin
»Müsli oder Brötchen, Kaffee oder Tee, Tomi? Wonach ist dir?«, rief Svenja aus der Küche.
»Ich bin für Müsli und Kaffee. Bei den Straßenverhältnissen will ich nicht Brötchen holen gehen«, erwiderte Jung.
»Heute hättest du die Chance gehabt, dich von mir verwöhnen zu lassen, Tomi.« Svenja untersuchte vor sich, auf dem Küchentresen, die Äpfel in der Obstschale auf Druckstellen. Sie sah über die Schulter zu ihrem Mann hinüber, der den Frühstückstisch deckte.
»Danke, meine Liebe. Ich merke mir’s fürs nächste Mal«, rief er ihr zu.
Jung hatte schlecht geschlafen. Nachts war er öfter aufgewacht. Er hatte auch
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