Pelte, Reinhard
wirkte beruhigend auf die Gesellschaft ein. Keiner führte einen batteriegetriebenen Rundfunkempfänger mit sich.
»Wo ist denn der Scotch?«, rief jemand. Die Stimmung begann sich zu entkrampfen. Jung ermahnte sich noch einmal, sich zurückzuhalten und nicht an Trinkgelagen teilzunehmen. Er suchte Pelle in der Runde und winkte ihn zu sich.
»Was meinst du, Elmar, womit müssen wir rechnen?«, fragte er ihn ernst.
»Komm, lass uns gehen. Ich will die Lage hier nicht anheizen.«
Er wirkte besorgt, und auch Jungs Beunruhigung wuchs. In der Halle hatten sich eine Menge Hotelgäste um den Kamin versammelt. Kerzen wurden verteilt. Einige Taschenlampen warfen Lichtstäbe durch die Halle. Bis jetzt hatte sich noch kein Radio gefunden, das unabhängig vom Stromnetz abzuhören war.
»Wir gehen auf dein Zimmer. Hier ist es zu voll«, sagte Pelle.
Sie griffen sich ein paar Kerzen und Streichhölzer und verschwanden im Treppenhaus. In Jungs Zimmer setzten sie sich auf die beiden Sessel und stellten die Kerzen auf den runden Tisch dazwischen.
»Die Naturkatastrophen häufen sich in letzter Zeit aber gewaltig«, begann Jung seufzend das Gespräch.
»Papperlapapp. Naturkatastrophen gibt es gar nicht«, erwiderte Pelle erregt.
»Und was ist das da draußen, bitte schön?«
»Eine Zivilisationskatastrophe. Die Natur gleicht nur aus. Sie sorgt für das natürliche Gleichgewicht, das ist ihr Wesen, sonst nichts.«
»Ausgleich wovon?«, fragte Jung wütend.
»Es ist ein Unterschied, Tomas, ob auf unserem Planeten zwei oder sechs Milliarden Menschen essen, trinken und Mercedes fahren wollen. Je mehr Menschen und je größer ihr Drang nach Zivilisation, desto mehr Ungleichgewicht und desto öfter und härter das Eingreifen der Natur. Das ist ihr Job. Den wird sie machen, ob es uns gefällt oder nicht.«
»So einfach ist das?« Jung schüttelte ungläubig den Kopf.
»Ja, so einfach, und gleichzeitig so komplex. Aber was quatschen wir hier eigentlich? Die Lage ist ziemlich ernst«, fuhr Pelle fort. »Ich nehme an, dass die Überlandleitungen Schnee und Eis angesetzt haben, und unter dem Winddruck gebrochen sind. Vielleicht sind auch die Masten bei dem fürchterlichen Sturm einfach umgeknickt. Jedenfalls müssen wir damit rechnen, dass der Strom für längere Zeit wegbleibt. Hubschrauber und Reparaturtrupps können bei den Witterungsverhältnissen nicht eingesetzt werden. Da müssen schon Panzer und schweres Räumgerät her. Die nächsten stehen meines Wissens weit weg, in Neumünster.«
»Wie lange wird der Schneesturm anhalten?«, fragte Jung unruhig.
»Nach dem, was ich gesehen habe, noch länger. Er weht alles zu, auch das, was frei geräumt werden könnte.«
»Was machen die Leute auf dem Land? Hier im Hotel sind wir vergleichsweise sicher.«
»Weiß der Henker, wie die da durchkommen, vor allem ihr Vieh. Hoffentlich sind sie nach dem großen Schnee 78/79 schlau geworden und haben sich Notstromaggregate angeschafft.« Pelle schwieg nachdenklich.
»Und was können wir jetzt tun?« Jung wusste schon während er die Frage stellte, wie überflüssig sie war.
»Nichts. Warten und beten. Tut manchmal gut und hilft dabei, Boden unter die Füße zu bekommen«, erwiderte Pelle.
»Deinen Humor möchte ich haben. Meine Frau ist heute Abend in dieser weißen Hölle unterwegs.«
»Nun mal nicht so schwarz in schwarz oder besser so weiß in weiß. Wird schon werden. Ich geh runter in die Halle. Vielleicht kriegen wir ja Kontakt zur Außenwelt.«
»Ich bleibe erstmal hier und versuche es noch einmal über das Handy. Vielleicht klappt’s ja. Gibst du mir Bescheid, wenn sich Neues ergibt?«
»Mach ich. Bis bald.«
Pelle nahm eine Kerze, verließ Jungs Zimmer und schloss leise die Tür hinter sich. Jung blieb in seinem Sessel sitzen, legte den Kopf in den Nacken und starrte an die Decke. Seine Unruhe und Besorgnis wuchsen. Das flackernde Kerzenlicht zeichnete hin und her huschende Schatten auf die Zimmerdecke. Er stand auf und trat ans Fenster. Er blickte in eine wirbelnde, chaotische Unendlichkeit weißer Flocken, ohne Kontur, ohne Anhaltspunkt, ohne Anfang und ohne Ende. Ein feines Schimmern erfüllte die eisige Hölle da draußen. Trotzdem war es so finster, wie er es vorher noch nie erlebt hatte. Der Sturm jaulte und zerrte an allem, was ihm im Wege stand. Er erstickte jedes menschliche Geräusch. Sein Orgeln beschwor eine furchterregende, beklemmende Leblosigkeit herauf. Jung fröstelte, obwohl der Raum die Wärme des
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