Pelte, Reinhard
er: »Immos Gereiztheit war mehr als auffällig, als ich ihn auf die Familie des Mädchens ansprach. Und als Joachim unseren alten Klassenkameraden Udo im Fernsehen bei einer Schneehochzeit auf Föhr entdeckt zu haben glaubte, wurde er regelrecht beleidigend. Dabei hatte er recht.«
»Er lügt«, sagte Svenja einfach und nahm einen Schluck Kaffee.
»Wer lügt?«
»Immo, die Schwuchtel«, erwiderte sie kategorisch.
Jung sah auf seinen Teller und stocherte in seinem Müsli herum.
»Aber warum? Welchen Grund sollte er dafür haben?«
»Bin ich hier der Kriminaloberrat oder du?« Svenja beugte sich etwas vor und sah ihrem Mann intensiv in die Augen. »An deiner Stelle würde ich mich an die Sekretärin heranmachen. Hast du nicht gesagt, dass sie die Liste recherchiert hat?« Sie zeigte beschwörend mit dem Löffel auf seine Brust. »Vielleicht arbeitet sie schon länger für Immo. Dann erinnert sie sich sicherlich an den süßen, kleinen Lehrjungen. Frauen haben dafür ein viel besseres Gedächtnis als Männer.«
»Hey Carm«, rief Jung übertrieben erstaunt. »Du kennst dich ja doch aus unter Mösenleckern und den Scheißwichsern. Wer ist der Kerl? Ich zerquetsch ihm sein Arschgesicht und schnitz ihm ein neues. Dann wirst du dich nicht mehr an einen süßen Kleinen erinnern können.«
Svenja lachte und stand vom Tisch auf.
»Rufst du die Sekretärin nun an oder nicht?«, fragte sie und trug das Geschirr in die Küche.
»Mach ich. Prima Idee. Könnte von mir sein.«
»Ach Tony. Erzähl das doch lieber deiner Seelenklempnerin. Hat sie dir schon derartig ins Gehirn geschissen, dass du selbst an solchen Mist glaubst?«
Sie lachten erneut aus vollem Hals, und dieses Mal musste Svenja sich nicht die Hand vor den Mund halten. Nur Jung blieb das Lachen nach kurzer Zeit im Halse stecken. Ihm war ein erschreckender Gedanke gekommen. Sollte er vielleicht zur Psychotherapie gehen? Wer weiß, vielleicht gab es verschüttete Ängste, schlummernde Wut, verborgenen Hass oder eine uneingestandene Liebe, die sein Leben beherrschten und seinen freien Willen untergruben, ohne dass er es merkte? Vielleicht war schon der Glaube an einen freien Willen überhaupt eine komplette Illusion? Er starrte ratlos auf den Frühstückstisch. Dann nahm er seine Serviette, faltete sie akkurat zusammen und schob sie unter den Teller.
*
Rechts und links der Fahrbahn der Husumer Straße nach Flensburg türmten sich die aufgeschobenen Schneeberge und begruben die Rad- und Gehwege unter sich. Es herrschte noch immer strenger Frost. Das Hochwasser hatte Eisschollen auf die Promenaden an der Hafenspitze geschwemmt und übereinandergeschoben. Auf der Förde schwammen Trümmereis und Eisschlamm. Der Ostwind hatte das Eis an den Kais und Bootsstegen zu Bergen und bizarren Skulpturen zusammengepresst. Auch Norderhofenden und der Hof der Polizei-Inspektion waren über das Jahresende unter Wasser und Eis gesetzt worden. Nachdem der Sturm abgeflaut und das Wasser abgelaufen war, hatte man Straße und Hof von Schnee und Eis frei geräumt. Jung konnte sein Auto wie gewohnt auf dem Parkstreifen im Innenhof abstellen.
»Frohes neues Jahr, Herr Oberrat«, begrüßte ihn Petersen in seiner Wachstube zum Treppenaufgang. »Lange nicht gesehen.«
»Frohes neues Jahr, Petersen. Hauptsache, wir sehn uns überhaupt noch mal. Mit ein wenig Pech hätten wir uns im Himmel wiedergesehen«, erwiderte Jung seinen Gruß.
»Oder in der Hölle. Aber die hatten wir ja nun schon. Wo waren Sie, als der Sturm losbrach?«
»Ich hatte Glück. Ich überstand die Tage in einem warmen, dicken Hotel in Husum. Sorgen hatte ich wegen meiner Frau, die in Flensburg geblieben war. Ich wusste lange Zeit nicht, was mit ihr los war.«
»Doch jetzt ist alles klar, oder?«
»Ja, alles in Butter. Und bei Ihnen?«
»Alles bestens. Ich wohne im fünften Stock auf der Westlichen Höhe. Von da hatten wir einen schönen Blick auf die weiße Bescherung.«
»Und sie hatten genug zu essen und trinken, wie man sieht.« Jung musterte Petersen von oben bis unten.
»Stimmt. Außerdem hatten wir Fernwärme in der Stadt.« Petersen lachte verlegen.
»Ja, Petersen, Glück muss der Mensch haben.«
»Hab ich auch verdient, Herr Oberrat.«
»Klar doch, Petersen. Schönen Tag noch.«
»Danke gleichfalls, Herr Jung.«
Er stieg das Treppenhaus hinauf in den ersten Stock, betrat sein Büro und öffnete zuerst das Fenster, um den Mief hinauszulassen, der sich über die Tage des großen Schnees
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