Pelte, Reinhard
Nachmittags noch hielt. Er zitterte, und ihn überfiel ein unwiderstehlicher Drang nach menschlicher Gesellschaft. Er ergriff die Kerze, verließ sein Zimmer und lief das Treppenhaus hinunter.
Die Menschen hatten sich um den Kamin versammelt. Sie diskutierten bewegt aber nicht aufgeregt. Manche tranken Kaffee oder Tee aus großen Bechern. Zwei Männer in dicker, schneeverkrusteter Winterkleidung betraten die Halle. Sie suchten Immo und besprachen sich mit ihm. Alle Aufmerksamkeit hatte sich ihnen zugewandt. Die Gemeinschaft wartete gespannt auf Informationen. Schließlich hob Immo die Arme und bat um die Aufmerksamkeit, die er schon längst hatte.
»Herrschaften, ich sehe gerade auf meiner Uhr, dass es kurz nach zwölf ist. Zu allererst wünsche ich uns allen ein frohes neues Jahr 2007. Ich hoffe, jeder hat ein Glas und etwas drin. Zum Wohl.«
Die Anspannung löste sich. Man trank sich zu und wünschte sich alles Gute zum neuen Jahr.
»Mein Koch hat unseren Hotelmanager mitgebracht. Sie haben sich aus der Stadt hierher durchgekämpft. Die Stadt ist eingeschneit und ohne Strom, jeder Verkehr ist zum Erliegen gekommen. Mehr wissen wir noch nicht. Die gute Nachricht ist, dass wir ein Notstromaggregat im Hause haben. Die letzte Katastrophe ist Jahrzehnte her. Ich hatte nichts davon gewusst. Mein Manager wird es in den nächsten Minuten aktivieren.« Applaus unterbrach Immo. Die Leute drängten sich um ihn und boten ihre Hilfe an.
*
Der Schneefall hielt noch volle 48 Stunden an, der Sturm ganze vier Tage. Am Neujahrsnachmittag konnte Pelle ihnen wenigstens erste Hoffnungen auf ein absehbares Ende des Schnees machen. Am dritten Tag war die Sonne herausgekommen, und das Hotelpersonal und die Gäste, soweit sie adäquate Winterkleidung mitgebracht hatten, stellten erste Räumtrupps zusammen, um die Zugänge zu den Gebäuden und den Autos freizuschaufeln. Der anhaltende Sturm machte aber nach kurzer Zeit ihre Anstrengungen zunichte. Sie übten sich mit großer Disziplin in Geduld, bis der Sturm nachgelassen hatte, und sie erneut antraten, dieses Mal erfolgreich. Die Gäste machten sich mit dem wenigen Hotelpersonal zusammen nützlich, wo es sich anbot, vor allem in der Küche. Für warme Getränke und Essen war immer gesorgt. Die übrigen vertrieben sich die Zeit bis zur nächsten Arbeit mit Gesprächen oder Spielen oder saßen um den großen Fernseher in der Lobby und verfolgten die neuesten Nachrichten.
In den Kreisen Ostholstein, Schleswig-Flensburg und Nordfriesland war Katastrophenalarm ausgelöst worden. Es herrschte absolutes Fahrverbot, was in Jungs Ohren wie Hohn klang. Südlich von Husum konnte nicht einmal die wichtigste Nord-Süd-Verbindung der Westküste, die B 5, geöffnet werden. Die Milchabholung von den Gehöften lag komplett danieder. Der anhaltende Oststurm führte an der Ostküste zu Hochwasser, das die Flensburger Hafenspitze unter Wasser und Eis setzte. An der Westküste verursachte er extremes Niedrigwasser. Kümos {14} fielen trocken und gerieten in Seenot. Die Husumer Nachrichten waren eingestellt worden. Im Bahnhof saßen alle Züge fest. Die Passagiere wurden, um sie vor dem Erfrieren zu retten, in einer halsbrecherischen Aktion in die nahegelegene Kreisberufsschule ausquartiert. Beim Ausbruch eines Feuers in einer Versandschlachterei konnte die Feuerwehr nicht helfen. Die Hydranten waren unter dem Schnee verschüttet und eingefroren. Die Bundeswehr wurde um Hilfe gebeten. Die nächsten Heeres- und Luftwaffeneinheiten lagen aber weit weg, bei Rendsburg und Neumünster. Nierenkranke konnten erst nach Ende des Schneefalls zu ihren Stationen transportiert werden. Auf den Inseln und Halligen saßen derweil die Urlauber fest. Niebüll richtete ein Lager für Hunderte Steckengebliebene ein. Auf Sylt bestürmten Tausende Feriengäste die Behörden und wollten ihre Abreise erzwingen. Sind die verrückt oder nur besoffen?, dachte Jung. In beiden Fällen taten die Behörden das einzig richtige: Sie ignorierten die Sylties einfach und taten die Arbeit, für die sie bezahlt wurden. Jung hatte des Öfteren vergeblich versucht, mit seiner Frau zu telefonieren. Die Netze und Telefonleitungen waren verstopft oder nicht geöffnet.
Jung erinnerte sich später an die Jahreswende wie an ein paar schwierige aber im Nachhinein auch schöne Tage. Die Zwangsgemeinschaft war geprägt von selbstverständlicher Hilfsbereitschaft, von animierender Sachlichkeit und disziplinierter Konzentration auf das, was die
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