Pelte, Reinhard
Familienmitglieder nichts vermerkt. Aber das muss nichts heißen. Damals war das Thema Homosexualität tabu, wurde verdrängt und geheim gehalten. Außerdem schien es nicht wichtig. Das könnte, was das Verhalten der Männer anbetrifft, einen gewissen Sinn ergeben, da hast du recht.« Jung stocherte in seinen Kartoffeln herum.
»Frag ihn doch einfach«, sagte Boll schlicht.
»Wen?«
»Udo, den Seelenhirten. Er hat vielleicht etwas mehr auf der Pfanne als Immo, der Hotelfritze.«
»Hm, könnte funktionieren«, murmelte Jung.
Inzwischen hatte er seine Hähnchenflügel vertilgt und wischte sich die Hände mit einem Erfrischungstuch sauber.
»Wollen wir noch Kaffee und Grappa bestellen?«, fragte er Boll.
»Für mich nur Kaffee.« Boll drehte sich um und suchte die Bedienung. Sie stand im Hintergrund vor der Durchreiche zur Küche und drehte ihnen den Rücken zu. Boll schaute ihr eine Weile auf den Allerwertesten in der Hoffnung, irgendwann mit ihr Blickkontakt aufnehmen und sie heranwinken zu können. Seine Hoffnung wurde enttäuscht. Sie war in ein längeres Gespräch mit dem Küchenpersonal versunken.
»Wenn sie sich mal umsieht, winkst du sie bitte heran?«, wandte sich Boll an Jung.
»Klar. Was macht übrigens deine Frau?«, wechselte Jung das Thema.
»Es geht ihr gut, glaube ich.«
»Glaubst du?« Jung zog die Augenbrauen hoch und legte die Serviette beiseite.
»Ich hab deinen Rat befolgt und ihr schon mal zu Weihnachten den Blumenstrauß des Jahrhunderts geschenkt.«
»Und?« Jung lachte. »Du klingst, als wärst du auf der falschen Feier gewesen.«
»Nein, nein, es war schon gut. Heftige Umarmung, Küsse und große Gefühle.«
»Und? Was ist daran falsch?«
Boll zögerte und suchte nach Worten. »Weißt du, wenn ich ehrlich bin, Tomi, kam ich mir vor wie in einem schlechten Film, verstehst du?«
»Was? Nein. Erklär’s mir.«
»Ich hatte das Gefühl, als umarmte sie da jemanden, den sie gar nicht meint und der ich gar nicht bin. Und wenn ich wirklich ich gewesen wäre, dann hätte sie mir den Blumenstrauß um die Ohren gehauen und wäre weinend zu ihrer Mutter geflüchtet.«
»Ja, wer bist du denn wirklich?«, fragte Jung schmunzelnd.
»Einer, der am Vormittag beim Anblick einer jungen Frau im Supermarkt einen Steifen in der Hose hatte.«
Jung lachte. Boll blieb ernst.
»Willst du dich von ihr trennen?«, fragte Jung.
»Quatsch. Ich bin mit ihr seit der Uni zusammen. Wir haben gemeinsam ein Leben hinter uns. Ich käme mir albern und blöd vor.«
»Warum blöd? Du bist nicht der Einzige.«
»Eben. Ich müsste mir eingestehen, dass ich zeit meines Lebens blind und gefühllos gewesen bin, verstehst du?«
Das Gespräch stockte. Jung ergriff als Erster wieder das Wort. »Ich verstehe. Ulla scheint dich gut zu verstehen, sonst wäre sie nicht bei dir geblieben.«
»Du verstehst gar nichts. Ich sagte das nicht in Hinblick auf Ulla, sondern in Hinblick auf mich.«
Boll schwieg, und auch Jung sagte kein einziges Wort. Er sah sich Hilfe suchend um und erblickte im Hintergrund die Bedienung, wie sie zu ihnen herübersah. Er winkte sie heran und verlangte die Rechnung. Sie schwiegen beharrlich, bis die träge Frau die Rechnung wortlos vor sie auf den Tisch legte. Jung bezahlte ohne Trinkgeld zu geben, immer noch schweigend.
»Was haben wir ihr getan, dass sie uns keines Wortes würdigt?«, fragte Boll.
»Nichts. Wir sind hier. Das reicht«, erwiderte Jung kurz angebunden. Sie standen auf und verließen das Lokal.
»Fährst du mich an der Dienststelle vorbei?«, fragte Jung. »Ich habe eiskalte Füße.«
»Selbstverständlich.« Boll nickte zustimmend.
Obwohl sie mittlerweile über Süderhofenden, am ZOB vorbei zur Polizei-Inspektion fuhren, hatte keiner von ihnen ein weiteres Wort gesagt. Im Hof hielt Boll an und ließ Jung aussteigen.
»Ich werde mit Udo, dem Inselpastor, sprechen«, brach Jung sein Schweigen. »Ich melde mich bei dir, wenn ich Neues habe.«
»Okay, mach’s gut. Und viel Erfolg. Tschüss Tomas.«
»Tschüss Klaus.«
Als Jung seine Füße auf das eisige Pflaster setzte, wusste er, dass es an der Zeit war, seine nassen Socken loszuwerden, oder er würde in Kürze mit Schlimmerem als kalten Füßen zu tun haben. Am Treppenaufgang grüßte er Petersen nur im Vorbeigehen. Der blickte ihm mit offenem Mund hinterher und schüttelte den Kopf. Er sah die Gelegenheit, seine langen Stunden mit einem netten Klönschnack zu versüßen, die Treppe hinaufeilen und im Treppenhaus
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