Pelte, Reinhard
verschwinden.
In seinem Büro angekommen schloss Jung hinter sich die Tür. Er zog die Schuhe aus und hängte die feuchten Socken über die Heizung. Er setzte sich in seinen Bürostuhl und legte die Füße auf den Schreibtisch. Ihm war kalt. Seine Zehennägel mussten geschnitten werden. Er dachte an seine Frau, an sich und seine Arbeit. Darüber kam er ins Grübeln. Je länger er grübelte, desto unwilliger wurde er. Schließlich war er fast wütend. Was sollte das Ganze eigentlich? Was sollte das Wühlen in den Empfindlichkeiten dieser blöden Schwuchteln? Was wollte er denn da herauspopeln, das ihm half, das Verschwinden eines kleinen Mädchens aufzuklären? Wer wollte das denn überhaupt wissen? Ihre Familie war zerstört. Wem nützte das Wissen über den Hergang des Geschehens überhaupt? Scheiß drauf. Und dafür werde ich auch noch bezahlt. Was für eine Vergeudung von Steuergeldern.
Aber er und seine Familie lebten davon. Sie konnten sich ein Haus und zwei Autos leisten. Sein Sohn konnte studieren. Seine Tochter konnte in Japan zur Schule gehen. Ihm fielen noch etliche Gründe ein, so weiterzumachen.
Er hatte auf einmal das Bedürfnis nach Urlaub. Hatte das nicht bereits sein alter Klassenkamerad Elmar bemerkt? Er würde eine Menge dafür gegeben haben, wenn er in diesem Moment auf dem geräumigen Balkon eines ruhigen Hotels der Luxusklasse auf Fuerteventura sein könnte: Im Halbschatten auf einer Liege dösen und den Blick über das in der ewigen Sonne funkelnde Meer schweifen lassen. Die Geräusche des belebten Ferienstrandes würden verebben und sein Ohr nur noch als einschläferndes Gemurmel erreichen. Neben ihm, auf einem niedrigen Tischchen, stünde ein Glas Rosado von Macia Batle, ein Krimi von Sjöwall/Wahlöö würde aufgeschlagen auf seinem Bauch liegen, und er wäre voll froher Erwartung auf ein paar exquisite Tapas zu Mittag und danach auf eine köstliche Cohiba Siglo II, seinem Lieblingsformat. Die Vorstellung war zu schön, als dass sie in naher Zukunft wahr werden konnte. Er versprach sich selbst, dem Urlaubstipp seines alten Klassenkameraden zu folgen. Sobald die Arbeit an dem Fall beendet war, würde er bei dem Bekannten an der Algarve anrufen und das Haus mieten.
Im Moment hatte er jedoch anderes zu tun. Bevor er den Pastor auf Föhr besuchen durfte, musste er Holtgreves Genehmigung einholen. Er sah sich dazu genötigt, seit Holtgreve ein großes Theater gemacht hatte, als Jung ungefragt und eigenmächtig in einem anderen Fall auf der Insel Sylt recherchiert hatte. Er wählte den Apparat seines Chefs an.
»Holtgreve.«
»Jung hier. Ich hoffe, ich störe nicht. Ich möchte Sie gerne sprechen.«
»Worum geht es?«
»Um den Fall des verschwundenen Mädchens. Sie erinnern sich?«
»Selbstverständlich. Kommen Sie hoch.«
»Jetzt gleich?«
»Ja, wann denn sonst? Aber dalli.«
»Bin schon auf dem Weg.«
Jung legte den Hörer zurück. Er zog die noch feuchten Socken über die Füße und schlüpfte in seine Halbschuhe.
Holtgreves Bürotür stand wie immer offen. Jung klopfte an das Türblatt.
»Herein. Setzen Sie sich«, befahl Holtgreve und zeigte auf den Besucherstuhl vor seinem Schreibtisch. Er legte die Unterarme auf die leergefegte Schreibtischplatte, faltete die Hände, als wolle er beten, und sah ihm in die Augen.
»Guten Tag, Herr Holtgreve. Frohes neues Jahr. Haben Sie den Schnee gut überstanden?«
»Ja, danke. Was gibt es?«
»Ich möchte eine Dienstreise nach Föhr machen. Ich will Erkundigungen vor Ort einholen.« Jung fasste sich bewusst kurz.
»Warum müssen Sie dafür nach Föhr?«
Jung erklärte seinem Chef so gut er konnte seine Gründe.
»Warum bestellen Sie Ihren Zeugen nicht hierher?«, wandte sein Chef ein.
»Er ist streng genommen kein Zeuge. Mir geht es darum, die engste Umgebung des Mädchens zu erkunden. Ich glaube, die genaue Kenntnis der Menschen, die sie gekannt haben, würde mir dabei helfen. Dazu muss ich auf die Insel.«
»Ermitteln Sie oder treiben Sie Psychospielchen, Jung?«
Jung fühlte Holtgreves Widerstand gegen sein Vorhaben wachsen. Deswegen sagte er einfach: »Ich ermittle.«
»Dann sagen Sie endlich wogegen.«
»Nicht gegen irgendwen, sondern in Sachen Aufhellung des Tatumfeldes.«
Jung sah sich mit einem Unverständnis konfrontiert, das ihn reizte und langsam wütend machte.
»Was denn nun? Ist er Zeuge?«, schnappte Holtgreve.
»Vielleicht.«
»Dann bestellen Sie ihn ein. Basta.« Holtgreves Ungeduld reizte Jung immer
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