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Pelte, Reinhard

Pelte, Reinhard

Titel: Pelte, Reinhard Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Inselbeichte
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Osten und Süden sah ich nur haushohe Schneewehen.«
    »Hast du nicht Panik gekriegt? Wie ist deine Frau damit klargekommen?«
    »Zum Glück war Ulla am Vormittag nach Hamburg gefahren. Wir waren zu einer Silvesterparty eingeladen. Ich wollte abends nachkommen.«
    »Ähnlich wie bei mir nur anders«, witzelte Jung.
    »Ich war froh darüber. Es war lebensbedrohlich. Die Heizung fiel aus, und ich heizte den Kamin an. Ich glaube, ich habe in meinem ganzen Leben noch nicht so viel Holz verfeuert. Die Wasserleitungen durften nicht einfrieren.«
    »Und, sind sie?«
    »Mein Haus war bald ein Iglu. Es hielt die Wärme gut fest.«
    Die Bedienung, ein Tablett mit zwei Gläsern Rotwein balancierend, näherte sich ihrem Tisch. Sie war klein. Ihre Schürze reichte ihr bis an die Knöchel. Ihr Schritt war langsam, und sie wiegte ihre Hüften. Sie wirkte träge, ihre herunterfallenden Augenlider machten einen lässigen, fast blasierten Eindruck. Ihrem Gesicht hatte sie mit viel Farbe und Schminke aufgeholfen. Sie stellte die Gläser wortlos auf den Tisch und blickte sie abwartend an. Jung kam die Frau vor, als wolle sie lieber nicht mit kniffligen Fragen nach Enchiladas, Fajitas, Tostadas, Quesadillas oder Flautas behelligt werden. Um die Sache abzukürzen, bestellte er mit einfachen und klaren Worten Chicken Wings mit scharfer Salsa, Country Potatoes und Joghurt-Dip.
    »Das Gleiche für mich«, nickte Boll die Bestellung ab. Sie wandte sich wortlos um und trollte sich in Richtung Küche.
    »Zum Wohl, Tomi. Auf den überstandenen Schrecken.« Boll hob sein Glas und wartete darauf, mit Jung anstoßen zu können.
    »Zum Wohl, Klaus.« Sie nahmen einen größeren Schluck. Nachdem sie die Gläser wieder zurückgestellt hatten, fragte Boll: »Nun erzähl mal. Was gibt’s Neues im Fall des Mädchens?«
    Bolls Neugier war echt, und Jung begann ausführlich zu erzählen. Er ließ sich Zeit und formulierte sorgfältig. Er wollte die wenigen, reinen, unbezweifelbaren Fakten herausstellen und jede Bewertung, jede Deutung oder vermeintlichen Bezüge weglassen. Er bemühte sich auch deswegen, weil er für sich selbst eine Klarheit in der Sache gewinnen wollte, die nicht von seinen Gefühlen und Intuitionen eingefärbt war. Zwischendurch kam ihr Essen. Das Nagen an den Hühnerflügeln und das Dippen der Kartoffelschnitze in die köstlichen Saucen verschafften ihm Pausen, die ihm halfen, gut zu überlegen, was er sagte. Er bemühte sich um kurze, klare Sätze und vermied Schnörkel, unfreiwilligen Witz und Wortgeplänkel, an denen er sich sonst gerne ergötzte. Am Schluss sagte er: »Immo ist nach Syrien in Urlaub gefahren.«
    Boll hatte ihn ohne Unterbrechung reden lassen. Er war mit den Wings und Potatoes bereits am Ende und wischte sich mit der Serviette das Fett von den Fingern, während Jung noch den Großteil vor sich auf dem Teller liegen hatte.
    »Syrien? Kein Urlaubsland aus dem TUI-Katalog«, bemerkte Boll trocken. »Für Schwule ein Geheimtipp.«
    »Wie meinst du das, Klaus?«
    »Der Vordere Orient hat eine lange und sehr lebendige Kultur in der Männer- und Knabenliebe. Denk mal an Lawrence von Arabien und ›Die sieben Säulen der Weisheit‹.«
    »Du meinst, er macht eine Lustreise wie Heteros nach Thailand?«
    »Die Schwulen würden diesen Vergleich entrüstet zurückweisen. Aber wenn man’s mal ganz platt betrachtet, dann ist da durchaus was dran, ja.« Boll nickte.
    Jung nagte den nächsten Flügel ab und nahm einen Schluck Wein.
    »Weißt du, was mir gerade in den Sinn kommt?«, fragte er und schob sich nachdenklich noch einen Kartoffelschnitz in den Mund. »Ich frage mich, ob Udo eventuell schwul ist. Es würde mich zwar überraschen, aber bei Immo habe ich auch nichts geahnt.«
    »Als Pastor auf der Familieninsel wäre er damit aber richtig am Arsch«, kommentierte Boll trocken. »Hier an Land kennt man ihn nicht, und es würde ins Bild passen. Aber bringt uns das einen Schritt näher an das Mädchen heran?«
    »Es geht mir ums Atmosphärische, verstehst du? Wenn er Immo bei seinen Einkaufstouren auf den Hof begleitet hat, dann könnte er das Mädchen dort gesehen haben. Wie hat er den Hof und die Familie erlebt? Schwule haben angeblich eine hohe Sensitivität.«
    »Und Schwule erkennen sich untereinander. Vielleicht ist auch der Bruder der Kleinen schwul? Er könnte der Grund ihres Zerwürfnisses sein.«
    »Eifersucht?« Jung sah Boll fragend in die Augen. »In den Akten ist bezüglich der sexuellen Orientierung der

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