Pelte, Reinhard
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»Ich will ihn aber in seiner gewohnten Umgebung sehen, ohne Verhörsituation und Polizeimief.«
Jung wusste schon, bevor er fertig war, dass Polizeimief ein Wort war, dass er in Holtgreves Gegenwart lieber nicht in den Mund genommen hätte.
»Jung, was erzählen Sie da? Ist er ein Verdächtiger, ja oder nein?«
Jung fühlte sich in die Enge getrieben und antwortete, nur um endlich Ruhe zu haben: »Ja, der Pastor ist tatverdächtig.«
Ihn überschwemmte eine Gefühlswoge, die ihm alles Blut in den Magen trieb. Seine Wut auf Holtgreves Grobheiten und Unverständnis verflog schlagartig. Er schwieg in der Folgezeit, als sei er abwesend.
»Ein Pastor? Verdammt, Jung. Vorsicht. Allergrößte Vorsicht.« Holtgreve hob abwehrend seine Hände vor die Brust. Es entstand eine längere Pause. Jung schwieg weiterhin. Kurz darauf sagte Holtgreve: »Okay, Jung, fahren Sie. Aber benutzen Sie das Ding zwischen Ihren Ohren, dafür werden Sie bezahlt.«
Jung stand auf und war schon an der Tür, als Holtgreve ihn noch einmal zurückrief.
»Jung, legen Sie sich nicht mit der Amtskirche an, verstanden? Ich möchte keine Scherereien. Haben Sie das kapiert?«
»Ja, habe ich. Noch etwas?« Jung sah Holtgreve mit leerem Blick an.
»Nehmen Sie Ihren Privatwagen. Die Dienstwagen brauche ich hier. Sie können Ihre Kosten über Reisekostenvergütung abrechnen.«
»Mach ich«, sagte Jung tonlos.
Er verließ Holtgreves Büro und stieg die Treppen mit feuchten Socken und immer noch kalten Füße hinunter.
Die Reise nach Föhr
Schleswig-Holstein ist das nördlichst gelegene deutsche Bundesland. Der Landesteil Schleswig ist wiederum der nördliche Teil davon. Er trennt die Ostsee von der Nordsee und grenzt im Norden an das Königreich Dänemark. Will man von der Ostküste, an der die alte Residenzstadt Schleswig und der einstmals bedeutende Handelsplatz Flensburg an weit ins Binnenland reichenden Fjorden liegen, zur Westküste, nach Nordfriesland, so überquert man in der Mitte den von Norden nach Süden verlaufenden öden Geestrücken. In Bredstedt erreicht man die heimliche Hauptstadt Nordfrieslands. Jenseits dieser gemütlichen Kleinstadt breitet sich nach Westen und Norden flaches, fettes Marschland aus. Die Nordfriesen haben es dem Meer abgerungen und zu einer reichen Ackerlandkultur entwickelt. Die raue und kraftvolle Aura ihres Landes erinnert sie stets daran, dass sie unauflöslich mit der Erde verbunden und auf ewig den Elementen und Kräften der Natur ausgeliefert sind. Das erste größere Dorf in Richtung der Fähranleger zu den vor der Küste liegenden Inseln und Halligen ist Holtbüll. Man biegt dort ab nach Dagebüll, von wo Jung mit der Fähre nach Föhr übersetzen wollte. Er kannte die Strecke nach Dagebüll von vielen Sommerausflügen an die langen Sandstrände von Amrum und Föhr.
Jung startete in Flensburg bei strahlendem Sonnenschein. Das Display im Auto zeigte minus acht Grad, und er drehte die Sitzheizung auf Stufe vier. Er fuhr auf der B 200 in Richtung Husum. Vor Wanderup bog er rechts ab auf die Kreisstraße nach Bredstedt. Auf seiner Fahrt hatte Jung das Gefühl, als führe er zum ersten Mal nach Dagebüll. Die alte Vertrautheit war einer exotischen Fremdheit gewichen. Das Land lag unter Schnee begraben. Hier und da hatte der Sturm den gefrorenen Ackerboden blankgefegt. Die dunklen Flecken hoben sich wie flache Inselchen auf dem weißen Meer ab. Die wenigen kahlen Bäume ragten in den Himmel wie die Seezeichen im Watt vor der Küste. Jenseits des Geestrückens wurde es nach Westen hin immer diesiger. Die Temperatur stieg langsam an, allerdings verschlechterten sich die Witterungsbedingungen. Das Steuern des Autos verlangte Jung all seine Konzentration ab. Bis Schlüttsiel war die Sicht so weit zurückgegangen, dass die riesigen Flügel der vielen Windkraftanlagen nicht mehr zu erkennen waren. Die Temperatur war auf Werte nahe dem Gefrierpunkt angestiegen. Zu der schlechten Sicht gesellte sich eine schlüpfrige, durch den gefrierenden Nebel gelegentlich auch eisglatte Fahrbahn. Jung war erleichtert, als er ohne Zwischenfall in Dagebüllhafen angekommen und sich hinter den wenigen Autos für die Fähre nach Föhr einreihen konnte. Der Molenkopf war nicht mehr auszumachen. Aus dem dichten Nebel hörte er nur das Kreischen der Möwen und das regelmäßige Tuten eines Nebelhorns.
Als die Fähre abgelegt hatte, versank das Schiff in einer konturlosen, grauen Öde. Es herrschte Windstille. Wasser und Luft
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