Pelte, Reinhard
verschmolzen zu einer dunklen Bedrohlichkeit. Jungs schreckhafte Fantasie erwartete in jeder Sekunde das Auftauchen des Fliegenden Holländers. Die wenigen Passagiere waren unter Deck verschwunden. Die Schiffsbrücke vermochte er nur schemenhaft auszumachen. Die Mannschaften waren unsichtbar. Das rhythmische Tuten des Nebelhorns war das Einzige, das ihn daran erinnerte, dass er nicht verloren war. Er verzog sich in sein warmes Auto und schob eine CD in den Player. Die Leadgitarre der Rolling Stones begann mit dem Song ›Gimme Shelter‹. Er fühlte sich auf der Stelle besser.
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Jung hatte sich nicht bei Udo angemeldet. Er wollte als neugieriger Ehemaliger kommen und nicht als Vertreter der Kripo, der in irgendeiner Mission unterwegs war. Überhaupt wollte er alles vermeiden, das seinen Besuch vorbelastet hätte. Er hatte seinen alten Klassenkameraden in einer Fernsehreportage entdeckt und wollte nun, weil er gerade mal zufällig auf der Insel war, vorbeischauen und Hallo sagen. Diese Erklärung hatte er sich zurechtgelegt.
Jungs Fantasie war durch die Unterhaltung mit Boll und von der Auseinandersetzung mit Holtgreve angestoßen worden. Sie hatte ihn in Richtungen denken lassen, die ihm bis dahin verschlossen geblieben waren. War Udos Freundschaft zu Immo vielleicht aus seiner bedrängten, gleichgerichteten sexuellen Neigung zu verstehen? Wenn Jung sich an die beiden aus der gemeinsamen Schulzeit erinnerte, so konnte er keinen anderen Grund entdecken. Ihre Verschiedenheiten in Aussehen, Geschmack, Temperament, Charakter und Interessen waren eklatant. Ihr Zerwürfnis konnte in ihrer Homosexualität eine nachvollziehbare Begründung finden. Ein selten attraktiver Jüngling, der ihrer beider Begierden geweckt hatte, könnte dafür Grund genug sein. Die zugefügten Verletzungen könnten so schwer gewesen sein, dass sie über die vielen Jahre nicht ausgeheilt waren. Jung bemühte sich zu verstehen, wie tiefgreifend und aufwühlend die Gefühle und Leidenschaften in einem solchem Fall gewesen sein mussten. War es nicht vorstellbar, dass in dieser unheilvoll aufgeladenen, explosiven Atmosphäre etwas passiert war, das keiner so gewollt, aber das sie zu Schuldigen gemacht hatte? Seine Reaktion auf Holtgreves blindes Drängen nach einem vorzeigbaren Schuldigen hatte Jung völlig durcheinandergebracht.
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Als er in Wyk von der Fähre rollte, erstickte noch immer dichter Nebel Meer und Land. Der Schnee lag über dem Vorhafen wie ein Leichentuch. Jung parkte sein Auto auf dem großen Parkplatz kurz vor der Stadt. Die wenigen Autos, die mit ihm auf die Insel gekommen waren, hatten sich schnell auf der Ausfallstraße zu den Inseldörfern verloren. Bis auf eine Handvoll Passagiere und ein paar Autos, die darauf warteten, auf die Fähre gelassen zu werden, um auf das Festland zurückkehren zu dürfen, war er allein. Jung hatte sich darauf eingerichtet, ein oder zwei Nächte auf der Insel bleiben zu müssen. Ganz auszuschließen war das nie. Allerdings fehlte ihm eine Tube Zahnpasta. Er verließ deswegen sein Auto und machte sich zu Fuß auf in die Stadt.
Er betrat die Fußgängerzone durch das Hafentor. Emsige Arbeiter hatten die Straßen und Plätze von den Schneemassen befreit. Das Licht war ausgeknipst und der Ort abgeschlossen worden. Das Leben musste irgendwo anders abgeblieben sein. Vielleicht lag das auch am Wochentag und der Jahreszeit. In den Fenstern der Restaurants, Cafés und Geschäfte standen Hinweisschilder ›Montags geschlossen‹, ›Betriebsferien‹, ›Wir sind Ostern wieder für Sie da‹. Jung atmete erleichtert auf, als er in der Großen Straße die Leuchtreklame einer Bank und eines Drogerie-Marktes durch das dichte Grau schimmern sah. Er betrat den Discounter und fand unbehindert von anderen Käufern schnell seine Lieblingszahnpasta. Er begrüßte die Frau an der Kasse wie ein Ertrinkender das rettende Ufer. Sie glotzte ihn an, blieb aber kalt und stumm wie ein Fisch. Erst als er sie nach der Kirche St. Laurentii fragte, taute sie etwas auf. Sie erklärte ihm den Weg in den Westen der Insel, nach Süderende, wo er die Kirche finden würde. Jung wunderte sich, warum Süderende im äußersten Westen lag. Nachdem er der Kassenfrau länger in die Augen geblickt hatte, unterließ er es, sie um Aufklärung zu bitten.
Neben der Verkäuferin hatte er auf seinem Weg zurück zum Auto nur drei Menschen getroffen. Er setzte sich hinters Steuer und fuhr auf der verlassenen Straße über Nieblum
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