Pendelverkehr: Ein Eifel-Krimi (German Edition)
ausgemergelte
Brust der Greisin.
Linus hat das Bellen eingestellt und sich neben uns gelegt. Er stößt
kleine fiepende Klagelaute aus. Auch er hat Agnes gekannt, die Mutter von Jupp.
Die ich noch nie irgendwo anders als in ihrem Bett in der winzigen Dachstube
gesehen habe. Seit Jahren hat sie dort vor sich hingedämmert, liebevoll umsorgt
von ihrem Sohn Jupp und dessen Lebensgefährten, meinem Freund und
Geschäftspartner Hein. Einem ihrer seltenen lichten Momente habe ich meine
Freiheit zu verdanken. Eine seltsame Frage steigt in mir auf: Hat sie vor ihrem
Tod durch die Bäume in den Himmel hineinblicken können?
»Gott sei Dank!«
Der erbarmungslose Erleichterungsschrei reißt mich aus der Versenkung.
Ich würdige Hans-Peter keines Blickes.
»Wie kommt Jupps Mutter hierher?«, fragt Marcel erschüttert. Er
fällt neben mir auf die Knie und streichelt Agnes’ Hände. Dass sie tot ist,
verwundert ihn ebenso wenig wie mich. Bei jedem unserer Besuche hatten wir uns
darüber gewundert, dass sie noch lebte. Vorsichtig lege ich ihren Kopf wieder
auf das nach Veilchen duftende frisch bezogene Daunenkissen und erhebe mich.
»Weg, weg! Ein großes Tier!«, stößt Hans-Peter plötzlich aus.
Marcel richtet sich langsam auf und blickt in die Richtung, die
Hans-Peters zitternder Arm anweist.
»Ah, jetzt wissen wir, wie Mutter Agnes in den Wald gekommen ist!«
Zu Hans-Peter gewandt fragt er kopfschüttelnd: »Haben Sie noch nie ein Pferd
gesehen?«
»Ja, natürlich«, stottert der Berliner, »aber so zwischen den Bäumen
im Gegenlicht …«
Ich kann ihm seinen Schreck nicht verdenken. Jumbo ist ausgesprochen
Respekt einflößend, mit seinen mächtigen Ausmaßen gewissermaßen eine
fleischgewordene Erinnerung an vorzeitliche Riesenviecher. Neben diesem kolossalen
braunen Ardenner wirkt sogar der vierschrötige Jupp wie ein kleiner Knabe. Das
Tier am Zügel haltend, stapft er mit gesenktem Haupt auf uns zu. Unter den
schweren Hufen des formidablen Rückepferdes bebt der Waldboden im langsamen
Takt eines Trauermarschs. Aus verweinten Augen im noch mehr als sonst geröteten
Gesicht sieht uns Jupp blicklos an, reicht dem ihm fremden Hans-Peter die
Zügel, fällt vor seiner Mutter auf die Knie und bricht in ein lautloses Weinen
aus, das seinen ganzen breiten Körper erschüttert.
Marcel berührt ihn sanft an der Schulter.
»Es tut mir so leid, Jupp«, sagt er, »aber wir müssen reden. Die
Schleidener Polizei wird gleich hier sein.«
Jupp wendet sich abrupt um.
»Die Polizei?«, fragt er genauso entsetzt wie Hans-Peter soeben.
»Was soll die denn hier?«
Ich kann Hans-Peters verzweifelte Versuche, mir Jumbos Zügel in die
Hand zu drücken, nicht mehr ignorieren und schnauze ihn an: »Bind ihn fest!
Sind genug Bäume hier!«
»Festbinden?«, fragt Jupp tonlos. Prompt hält er Marcel seine Hände
hin wie der Verbrecher, der alles gestanden hat und nur noch abgeführt werden
möchte.
»Warum?«, fragt Marcel und schiebt Jupps Hände sanft fort.
»Sie wollte das so«, flüstert Jupp. »Allein. Sie war heute Morgen
ganz klar. So wie lange nicht mehr. Ich habe sie angefleht. Es ging ihr doch
besser. Sie sollte nicht allein sterben. Aber sie wollte es so. Im Wald. Noch
einmal lebendes Holz sehen, hat sie geflüstert. Es war ihr letzter Wunsch.«
Er reißt die Augen weit auf und schreit uns an: »Sie hat mich nie um
etwas gebeten! Nie etwas gefordert! Ich musste es doch tun!«
Ich zupfe Marcel am Hemd.
»Lass ihn Mutter Agnes nach Hause bringen«, flüstere ich. »Das muss
die deutsche Polizei doch nicht wissen.«
»Warum Polizei?«, fragt Jupp beunruhigt. »Meine Mutter ist nach sehr
langer Krankheit gestorben. Ganz normal.«
»Und keineswegs unerwartet«, setze ich hinzu. »Schnell, wir helfen
dir, sie aufs Pferd zu laden.«
»Nein!«
Marcel ist sehr bestimmt. »Tut mir leid, Jupp, aber das geht
wirklich nicht. Es gibt noch einen anderen Fall; deshalb kommt die Polizei her,
und dessen Aufklärung darf nicht behindert werden.«
Ich finde die Sache höchst unbehaglich, muss aber Marcel recht
geben. Jumbos Eindrücke im Waldboden lassen sich nicht ungeschehen machen und
könnten die polizeilichen Ermittlungen in eine falsche Richtung lenken. Mopsfledermausforscherin von Mammut verschleppt , titele ich
in Gedanken eine Schlagzeile. Und frage mich betroffen, wieso ich sogar
angesichts des Todes einer mir nahestehenden Frau immer noch in
verkaufsträchtigen Häppchen denke. Was muss passieren, damit ich endlich
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