Pendergast 02 - Attic - Gefahr aus der Tiefe
Ho-Chi-Minh-Pfad?« rief er nach unten.
»Das war mal eine Gemeinde wie die anderen auch«, zischte die Stimme. »Aber jetzt gehört sie zu mir und genießt meinen Schutz. Vor langer Zeit kannten viele von uns den richtigen Ho-Chi-Minh-Pfad ziemlich gut Das waren die armen Schweine, die man in den Dschungel geschickt hat, um ein unschuldiges Dritte Welt-Land in den Krieg zu stürzen. Heute will die Gesellschaft von diesen Leuten nichts mehr wissen. Viele leben jetzt hier unten im selbstgewählten Exil, wo sie atmen, sich fortpflanzen und sterben. Sie wie wir alle wollen nur eines: daß man uns in Ruhe läßt.«
Smithback hielt sein Diktiergerät in das Loch und hoffte, daß es in der feuchten Luft auch richtig funktionierte.
Natürlich hatte er schon davon gehört, daß Obdachlose Schutz in den U-Bahnschächten suchten, aber daß es unter der Erde ganze Gemeinden geben sollte, war ihm neu ...
»Sind denn alle Ihre Bürger Obdachlose?« fragte er.
Mephisto ließ sich mit der Antwort Zeit. »Uns gefällt dieses Wort nicht besonders, Schreiberling«, sagte er dann. »Wir haben ein Obdach hier unten, und wenn Sie nicht so ängstlich wären, dann könnte ich es Ihnen zeigen. Glauben Sie mir, wir haben hier alles, was wir brauchen. Aus den Leitungen zapfen wir Wasser zum Kochen und Waschen, und die Stromkabel versorgen uns mit Elektrizität. Die paar Dinge, die wir von der Oberfläche benötigen, bringen uns die Läufer. Im Blockhaus haben wir sogar eine Krankenschwester und einen Schullehrer. Andere Gebiete im Untergrund, wie zum Beispiel die Bahndepots in der West Side, sind wilde gesetzlose Orte, aber bei uns hier geht es zivilisiert zu.«
»Sie haben eben einen Schullehrer erwähnt Heißt das etwa, daß es auch Kinder bei Ihnen gibt?«
»Sie sind ganz schön naiv, Schreiberling. Viele von uns sind nur deshalb hier, weil sie Kinder haben und ein grausamer Staat sie ihnen wegnehmen und in ein Heim stecken will. Diese Menschen ziehen meine Welt der Wärme und der Dunkelheit Ihrer eiskalten Welt der Verzweiflung vor, Schreiberling.«
»Warum nennen Sie mich eigentlich immer ›Schreiberling‹?«
Wieder tönte ein heiseres Kichern zu Smithback herauf. »Aber das sind Sie doch, oder? William Smithback, der Schreiberling?«
»Ja, aber ich ...«
»Für einen Journalisten sind Sie erstaunlich schlecht belesen. Beschäftigen Sie sich erst einmal mit Popes ›Die Dummköpfe‹ bevor wir uns noch mal über dieses Thema unterhalten.«
Langsam begann es Smithback zu dämmern, daß er mit einem sehr viel gebildeteren Menschen sprach, als er erwartet hatte.
»Wer sind Sie eigentlich wirklich?« fragte er. »Wie ist Ihr richtiger Name?«
Wieder schwieg der Mann eine Weile. »Meinen Namen habe ich oben in Ihrer Welt gelassen, zusammen mit allem anderen«, zischte es schließlich aus dem Loch herauf. Jetzt bin ich Mephisto, und ich rate Ihnen, mir niemals wieder diese Frage zu stellen. Ebensowenig wie irgendeinem anderen hier unten.«
Smithback schluckte schwer. »Tut mir leid«, sagte er.
Trotz seiner Entschuldigung schien er Mephisto verärgert zu haben, denn dessen Stimme klang jetzt viel schärfer. »Ich habe Sie aus einem ganz bestimmten Grund hier herunterbringen lassen.«
»Wegen des Wisher-Mordes, oder?« fragte Smithback eifrig.
»In Ihren Artikeln haben Sie geschrieben, daß bei der Leiche der jungen Frau und dem anderen Skelett die Köpfe fehlten. Ich habe Sie hierherbringen lassen, um Ihnen mitzuteilen, daß die Enthauptung noch das Harmloseste ist, was den beiden hat zustoßen können.« Die Stimme ging in ein heiseres freudloses Lachen über.
»Wie meinen Sie das?« fragte Smithback. »Und wissen Sie, wer es getan hat?«
»In gewisser Weise schon«, zischte Mephisto. »Es waren dieselben, die auch meinen Leuten nachstellen. Die Wrinkler.«
»Die Wrinkler? Wer sind die Wrinkler?« fragte Smithback. »Ich verstehe nicht ganz ...«
»Dann halten Sie den Mund und hören Sie mir zu, Schreiberling! Lange Zeit war meine Gemeinde ein sicherer Zufluchtsort, aber seit dem vergangenen Jahr stellt man uns nach. Außerhalb der Sicherheitszone werden meine Leute angegrfffen und auf bestialische Weise ermordet. Meine Schützlinge haben große Angst. Immer wieder habe ich Läufer hinauf zur Polizei geschickt. Zur Polizei!« Smithback hörte ein verächtliches Spucken, bevor die Stimme in einer höheren Tonlage fortfuhr: »Diese korrupten Wachhunde der Gesellschaft sind mo
ralisch am Ende. Für sie sind wir nichts
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