Pendergast 03 - Formula - Tunnel des Grauens
nächsten Morgen schicken wollte.
Sie stieg die Stufen zur Haustür hoch. Die Namen auf den Türschildern waren in chinesischer Schrift geschrieben, aber wenn sie den Klingelknopf der Wohnung im Erdgeschoss drückte, konnte sie nicht viel falsch machen.
Eine Stimme schnarrte etwas auf Chinesisch.
»Ich bin’s«, rief Nora durch die Tür, »die Frau, die sich für die Wohnung interessiert.«
Das Türschloss wurde per Knopfdruck geöffnet, sie drückte die Tür auf und betrat einen mit flimmernden Leuchtröhren ausgeleuchteten Flur. Am Ende des Gangs hörte sie, wie jemand endlos lange brauchte, um die Wohnungstür aufzuschließen. Schließlich kam ein kleinwüchsiger, mürrisch aussehender Mann in einer ausgebeulten Hose und Hemdsärmeln aus der Wohnung und musterte sie misstrauisch. Nora ging auf ihn zu. »Mr. Ling Lee?«
Der Mann nickte und hielt ihr die Tür auf. Dahinter lag das Wohnzimmer: grünes Sofa, ein Plastiktisch und ein in Rot und Gold gehaltenes, kunstvoll geschnitztes Wandrelief, das eine von Bäumen umgebene Pagode zeigte. Von der Decke hing ein für die Ausmaße des winzigen Raumes viel zu großer Lüster. Für die Tapete hatte Lee grelles Lila gewählt, für den Teppich Schwarz und Rot.
»Setzen sich bitte«, sagte er, seine Stimme hörte sich müde und erschöpft an.
Nora sank bei dem Versuch, auf dem Sofa Platz zu nehmen, beängstigend tief ein.
»Woher Sie wissen von diesem Apartment?«, fragte Lee. Nora sah ihm an, dass er sie nicht sonderlich mochte. Pendergast hatte ihr schon gesagt, dass Vermieter in Chinatown am liebsten Landsleute als Mieter sehen.
»Von einer Frau, die in der Citybank an der Ecke arbeitet. Sie hat mir davon erzählt.«
»Wie heißt Frau?«, fragte Lee barsch.
»Ihren Namen kenne ich nicht. Mein Onkel hat mir geraten, mich an diese Frau zu wenden, weil sie meistens weiß, wo eine Wohnung frei ist. Und dann hat sie mir Ihre Telefonnummer gegeben.«
»Was für Onkel?«
»Onkel Huang. Er arbeitet für den chinesischen Wohlfahrtsverband.«
Lee hörte sich das alles stumm an.
Pendergast hatte ihr empfohlen, einen chinesischen Verwandten ins Feld zu führen.
»Und Ihr Name?«
»Betsy Winchell.«
Nora spürte, dass sich ein dunkler Schatten in die Tür zwischen Küche und Wohnzimmer schob. Offenbar Lees Frau, die Arme vor der Brust verschränkt, mit strengem Blick, vermutlich ein richtiger Hausdrachen.
»Am Telefon haben Sie gesagt, das Apartment im Tiefgeschosssei frei. Ich würde es am liebsten sofort mieten. Würden Sie es mir bitte zeigen?«
Lee tauschte einen Blick mit seiner Frau, deren verschränkte Arme sich merklich versteiften.
»Kommen mit«, sagte er verdrossen.
Der Weg führte durch den Flur und die Haustür ins Freie und dann einige Stufen hinunter. Nora sah sich scheu um, aber von O’Shaugnessy war nichts zu sehen. Lee schloss die Tiefgeschosswohnung auf und knipste das Licht an. Er schloss hinter ihnen wieder ab und schob pedantisch alle vier Riegel vor.
Die Wohnung war ein düsteres Loch, lediglich durch das vergitterte Fenster neben der Tür fiel trübes Tageslicht. Die Ziegelsteinwände waren mit weißer, mittlerweile grau gewordener Farbe gestrichen. Nora interessierte sich vor allem für den ebenfalls mit Ziegelsteinen belegten Fußboden. Sie registrierte, dass die Steine nicht einzementiert waren. Was mochte darunter sein? Erde? Sand? Beton? So uneben und feucht, wie der Bodenbelag aussah, tippte sie auf Erde.
»Küche und Schlafzimmer hinten«, nuschelte Lee, ohne sich die Mühe zu machen, ihr wenigstens die Richtung zu zeigen.
Nora fand den Weg allein. Hinter der mit Krimskrams voll gestellten Küche lagen zwei dunkle Schlafräume und das Bad. Eine Toilette gab es nicht. Immerhin fiel durch ein vergittertes, tief in den Lichtschacht eingelassenes Fenster wenigstens eine Ahnung von Tageslicht.
Als sie zurückkam, inspizierte Lee gerade das Schloss der Wohnung. »Muss ich festmachen«, sagte er mit unheilvoller Stimme. »Haben Diebe schon oft Reinkommen probiert.«
»Gibt es hier viele Einbrüche?«
Lee nickte enthusiastisch. »O ja. Und viele Überfälle. Sehr gefährlich hier.«
»Na ja, das Apartment scheint zumindest gut gesichert zu sein«, sagte Nora und lauschte dann angestrengt nach oben.
Nichts zu hören, die Decke schien schalldicht zu sein.
»Gegend nicht sicher für Mädchen. Jeden Tag Morde, Raubüberfälle und Vergewaltigungen … Meine ich: Gewaltigungen.«
Nora wusste jedoch, dass Chinatown, so schäbig manche
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