Pendergast 03 - Formula - Tunnel des Grauens
streckte Lee die Hand hin. »Haben Sie herzlichen Dank!«, sagte sie fröhlich.
Lee erwiderte schlaff ihren Händedruck. Als Nora die Tür hinter sich zuzog, hörte sie Lee und seine Frau laut streiten. Ein chinesischer Ehekrach, der sich, so wie das Keifen sich anhörte, lange hinziehen konnte.
3
Nora zog es sofort wieder in die Tiefgeschosswohnung. Als sie den Schlüssel ins Schloss steckte, tauchte O’Shaugnessy neben ihr auf. Gemeinsam betraten sie das Apartment. Nora schloss hinter ihnen ab und legte sämtliche Riegel und Ketten vor. Der Vormieter hatte in die Wand über dem zur Straße gelegenen vergitterten Fenster zwei Nägel getrieben, offenbar, um einen provisorischen Vorhang daran zu befestigen. Nora musste sich fürs Erste mit ihrem Mantel behelfen.
»Lauschiges Plätzchen«, lästerte O’Shaugnessy. »Riecht förmlich nach Mord und Totschlag.«
Nora gab keine Antwort, sie fing im Geiste schon zu graben an, teilte das Zimmer in Quadrate ein und suchte den Boden ab, um zu entscheiden, wo sie anfangen sollte. Schließlich ging sie auf die Knie und kramte ihr Taschenmesser aus der Handtasche. Sie trug es ständig bei sich, ihr Bruder Skip hatte es ihr zum sechzehnten Geburtstag geschenkt. Sie zwängte die Klinge zwischen zwei Ziegelsteine des Bodenbelags, trieb es energisch durch die Schicht aus fest gebackenem Schmutz und Bohnerwachs und gab keine Ruhe, bis sie die beiden Steine so weit gelockert hatte, dass sie sie ohne große Mühe hochheben konnte.
Der feuchte Geruch war untrüglich: Erde. Sie stocherte mit dem Finger darin herum: kühl, verklumpt, ein wenig glitschig. Als sie mit dem Taschenmesser tiefer vordrang, stieß sie auf eine Schicht aus Bauschutt. Na also!
O’Shaugnessy hatte seinen Rundgang durch das Apartment beendet und sah ihr neugierig über die Schulter. »Was machen Sie denn da?«
»Ich sehe nach, was unter den Ziegelsteinen liegt.«
»Und?«
»Lockerer Bauschutt, kein Zement. Das Beste, was uns passieren konnte.«
O’Shaugnessy verzog das Gesicht. »Na ja, wenn Sie’s sagen.«
Nora setzte die beiden Ziegelsteine wieder ein. Ein Blick auf die Uhr: gleich drei, Freitagnachmittag. In zwei Stunden würde das Museum schließen. Sie sah O’Shaugnessy an. »Patrick, wären Sie so nett, mir ein paar Dinge aus dem Werkzeugschrank in meinem Labor zu holen? Wenn Sie reinkommen, gleich links.«
Der Sergeant schüttelte störrisch den Kopf. »Vergessen Sie’s! Pendergast hat gesagt, ich soll bei Ihnen bleiben.«
»Das weiß ich. Aber Sie haben doch selber gesehen, wie die Tür verrammelt und verriegelt ist. Ich verspreche Ihnen, dass ich keinen Fuß vor die Tür setze. Abgesehen davon: Der Schattenmann weiß, wo ich arbeite. Er könnte mir auf der Straße auflauern, wenn ich selbst zum Museum gehe.«
»Warum haben Sie’s so eilig? Warten wir lieber, bis Pendergast aus dem Krankenhaus entlassen ist.«
Sie musterte ihn eindringlich. »Die Uhr tickt, Patrick. Irgendwo da draußen treibt sich ein Mörder herum.«
O’Shaugnessy sah sie unschlüssig an.
»Wir können es uns nicht leisten, tatenlos hier herumzusitzen. Machen Sie mir bitte keine Schwierigkeiten! Ich brauche diese Werkzeuge, und zwar sofort.« Mein Gott, warum war der Dickschädel so stur? »Nun machen Sie schon, los!«, fauchte sie ärgerlich.
O’Shaugnessy seufzte. »Sie legen hinter mir sämtliche Ketten vor und machen niemandem auf. Weder dem Vermieter noch dem Weihnachtsmann, nur mir. Versprochen?«
Nora nickte. »Versprochen.«
»Gut, ich sehe zu, dass ich so schnell wie möglich wieder zurück bin.«
Sie schrieb ihm schnell auf, was sie aus ihrem Werkzeugschrank brauchte, und schloss hinter O’Shaugnessy wieder sorgfältig die Tür ab. Der Sturm hatte an Stärke zugelegt, das Jaulen hörte sich schaurig an.
Sie ging ins Wohnzimmer zurück und starrte gedankenverloren auf den Ziegelsteinboden. Leng, sosehr er seiner Zeitvoraus gewesen sein mochte, hatte vor über hundert Jahren noch nichts von den Möglichkeiten der modernen Archäologie ahnen können. Es würde mit Sicherheit Spuren geben, das war immer so. Menschen hinterlassen bei allem, was sie tun, irgendwelche Spuren.
Sie nahm das Taschenmesser zur Hand, kniete sich abermals auf den Boden und stemmte die beiden gelockerten Ziegelsteine wieder heraus. Der Donner war jetzt ganz nahe, aber sie versuchte, einfach nicht hinzuhören, sondern sich auf ihre Arbeit zu konzentrieren. Was immer unter der Erdschicht liegen mochte, sie würde es aufspüren.
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