Pendergast 03 - Formula - Tunnel des Grauens
Einmal ging ihr kurz durch den Kopf, was Brisbane wohl sagen würde, wenn er wüsste, was sie hier tat. Aber dann verdrängte sie auch den Gedanken. Zum Teufel mit Brisbane!
Merkwürdig, ihr ganzes Berufsleben lang hatte sie Knochen von Menschen ausgegraben und katalogisiert, aber die Skelette hatten sie – abgesehen von dem natürlichen Respekt vor dem Tod und der Würde des Menschen – innerlich nie berührt. Erst seit sie mit Pendergast vor dem Haus in der Water Street gestanden und er ihr von Mary Greens traurigem Leben erzählt hatte, war das anders geworden. Auf einmal war das ganze Elend ihres kurzen Lebens und schrecklichen Todes lebendig geworden. Zum ersten Mal, seit sie menschliche Knochen exhumierte, trauerte sie um den Menschen, von dem sie stammten.
Und nun kam der Nachmittag im Museum dazu, an dem es ihr beinahe ergangen wäre wie Mary Green. Das machte alles noch einmal anders. Mary Greens trauriges Geschick war etwas geworden, was sie ganz persönlich anging.
Der Sturm, der an der Wohnungstür rüttelte, und das Donnergrollen, das sich zum Glück ein wenig entfernter anhörte, rissen sie aus ihren Gedanken. Sie begann hektisch mit dem Taschenmesser in dem grobkörnigen Steinschutt unter der Erdschicht zu wühlen. Eine Ahnung sagte ihr, dass es eine lange Nacht werden würde.
4
Der Sturm rüttelte an der verriegelten Tür, ab und zu zuckte der grelle Lichtschein eines Blitzes durch das Zimmer, gefolgt von dumpfem Donner. O’Shaugnessy war zurück, sie teilten sich die Arbeit: Nora suchte jede Schaufel Aushub sorgfältig nach Fundstücken ab, der Sergeant schleppte ihn eimerweise in die Küche, wo er sich auf einer großen Plastikplane zu einem ansehnlichen Haufen türmte. Auf einer kleineren Plane lagen die Fundstücke, auf die Nora bereits gestoßen war, jedes mit einem Schildchen versehen. Die ausgehobene Grube war inzwischen etwa vier Meter lang und fast ebenso breit, die herausgenommenen Ziegelsteine hatten sie an der Längswand des Wohnzimmers aufgestapelt.
Schließlich legte Nora die Schaufel weg, nahm den Schutzhelm ab und fuhr sich mit dem Handrücken über die schweißnasse Stirn. Es war weit nach Mitternacht, sie fühlte sich erschöpft. Zu der körperlichen Anstrengung kam die mentale, es war nicht einfach, unter Zeitdruck zu arbeiten und dennoch bei jeder Schaufel darauf zu achten, dass sie nicht das geringste Fundstück übersah.
»Machen Sie mal fünf Minuten Pause!«, rief sie O’Shaugnessy zu. »Ich möchte mir das Bodenprofil genauer ansehen.« »Wird auch Zeit.« Dem Sergeant lief der Schweiß in Strömen über die Stirn.
Nora richtete den Lichtstrahl der Taschenlampe auf die sauber abgestochene Wand der Grube. Da und dort schabte sie mit der Schaufel eine unebene Stelle glatt. Als Archäologin war sie gewöhnt, das Profil einer ausgehobenen Grube zu lesen, wie andere Leute ein Buch lesen.
Die oberste, etwa fünfzehn Zentimeter dicke Schicht bestand aus relativ sauberer Erde: offensichtlich die erst in jüngster Zeit aufgeschüttete Unterlage für die Ziegelsteine des Bodenbelags. Darunter folgte eine knapp acht Zentimeter dicke grobere, mit kleinen Porzellan- und Keramikscherben durchsetzteSchicht, die vermutlich aus der Zeit nach 1910 stammte. Mit Lengs Labor hatten die Einschlüsse allem Anschein nach nichts zu tun, dennoch hatte Nora vorsichtshalber jede geborgene Scherbe mit einem durchnummerierten Aufkleber gekennzeichnet
Die nächsttiefere Schicht war mit Abfallresten und verrottetem Gras vermischt, auch einige Splitter von zerschlagenen Glasflaschen, ein paar Suppenknochen und das Skelett eines Hundes waren dabei. All das stammte wahrscheinlich, wie die anschließende Ziegelsteinschicht vermuten ließ, aus der Zeit vor der ersten Bebauung.
O’Shaugnessy reckte sich und lockerte die Schultern. »Weshalb müssen wir eigentlich so tief graben?«
»Bei den meisten alten Städten verschiebt sich das ursprüngliche Niveau immer weiter nach oben, für New York rechnet man alle hundert Jahre mit einem Anstieg um rund fünfundsiebzig Zentimeter.« Sie zeigte auf die ausgehobene Grube. »Das bedeutet, dass die Nullebene zu Lengs Zeit ungefähr so tief lag, wie wir bis jetzt gegraben haben.«
»Dann sind die alten Ziegelsteine dort unten der ursprüngliche Bodenbelag?«
»Ich denke, ja. Der Boden von Lengs Labor.«
Seltsam war allerdings, dass sie bis jetzt auf so wenige Spuren gestoßen war. Kaum Schmutz, als wäre der Boden sauber gefegt worden. Außer einem
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