Pendergast 03 - Formula - Tunnel des Grauens
zähflüssiger, dicker waren. Und nun stellen Sie sich mein namenloses Erschrecken vor, als plötzlich – ich war gerade dabei, das Messer beiseite zu legen – ein frischer Tropfen auf mein Handgelenk fiel!
Was für ein teuflischer Spuk spielte sich da ab? Ich richtete den Blick sofort hoch zur Zimmerdecke. Und siehe da, in der Ritze zwischen den Bodenbrettern eines der von Leng angemieteten Räume hing ein karmesinroter Tropfen, der zusehends größer wurde.
Ich stürmte eilends die Treppe hoch und hämmerte an Lengs Tür. Ich vermag mich nicht genau zu erinnern, in welcher Reihenfolge mir alle möglichen düsteren Gedanken durch den Kopf gingen, vor allem die Befürchtung, dass mein Mieter das Opfer eines hinterhältigen Überfalls geworden sei. In der Nachbarschaft kursierten nämlich Gerüchte über einen gewalttätigen Raubmörder, der sein Unwesen in unserer Gegend trieb. Aber wer achtet schon auf das einfältige Geschwätz von Leuten aus der Arbeiterklasse? Obwohl ich zugeben muss, dass rätselhafte Todesfälle in unserer Wohngegend leider öfter vorkommen.
Mein Klopfen war so frenetisch, dass Leng wohl keine Möglichkeit sah, sich taub zu stellen. Seine Erklärungsversuche hörten sich freilich ein wenig windig an. Ein Unfall, sagte er durch die Tür, er habe sich während eines Experiments eine erhebliche Verletzung am Arm zugezogen. Meiner Hilfe bedürfe er nicht, er habe schon die notwendigen Vorkehrungen getroffen. Er bedauerte den Vorfall, aber die Tür wollte er nicht öffnen. Und so blieb mir schließlich nichts anderes übrig, als mich verdutzt und von Zweifeln geplagt zurückzuziehen.
Am nächsten Morgen erschien Leng an meiner Tür. Er hatte mich nie zuvor in meiner Wohnung aufgesucht, sodass mich sein unerwarteter Besuch einigermaßen erstaunte.Sein Arm war tatsächlich verbunden. Er entschuldigte sich mit wohlgesetzten Worten für die Unannehmlichkeiten, die er mir gestern Abend bereitet habe, wollte aber nicht hereinkommen und verließ, nicht ohne abermals um Entschuldigung zu bitten, das Haus.
Ich sah ihm zutiefst beunruhigt nach, als er den Fußweg entlangging und in einen Omnibus stieg. Ich hoffe bei Gott um Ihr Verständnis, wenn ich sage, dass dieser Besuch – noch dazu so kurz nach den rätselhaften Ereignissen am Vorabend – auf mich keineswegs die beabsichtigte beruhigende Wirkung hatte. Im Gegenteil, ich war mehr denn je davon überzeugt, dass sich dieses nächtliche Treiben im dritten Stock, was auch dahinter stecken mochte, bei näherer Untersuchung und im Licht des Tages als schändlich erweise werde.
Ich fürchte, mehr kann ich heute Abend nicht zu Papier bringen. Ich werde den Brief im Geheimfach eines Elefantenfußes verstecken, den ich Ihnen – zusammen mit einigen anderen Kuriositäten – in spätestens zwei Tagen ins Museum zu schicken gedenke. Mit Gottes Hilfe hoffe ich die Kraft zu finden, den Brief am morgigen Tag zu Ende zu schreiben.
13. Juli 1881
Ich muss vorausschicken, dass es mir nur unter Aufbietung meiner ganzen Willenskraft möglich ist, mit der Schilderung der Ereignisse fortzufahren.
Nach Lengs überraschendem Besuch fühlte ich mich innerlich hin- und hergerissen. Mein Respekt vor den Idealen der Wissenschaft und mein Stolz rieten mir, seine Erklärungsversuche für bare Münze zu nehmen, und doch gab es eine innere Stimme, die mich daran erinnerte, dass ein Ehrenmann nicht ruhen und rastendarf, ehe er der Wahrheit auf die Spur gekommen ist. Und so entschloss ich mich schließlich, mir mit eigenen Augen ein Bild von der Art seiner Experimente zu machen. Sollten sie sich als seriös erweisen, konnte man mir allenfalls unangemessene Neugier vorwerfen, mehr nicht.
Meine Entscheidung mag nicht sonderlich mannhaft gewesen sein, aber ich fühlte mich, als hätten sich die blutroten Tropfen, die auf mein Schreibpapier und mein Handgelenk gefallen waren, tief in meinem Gehirn eingenistet. Die Art, wie Leng mich angestarrt hatte, als er auf meiner Türschwelle stand, machte ihn mir irgendwie unheimlich. Ich wollte es einfach nicht länger hinnehmen, jemanden unter meinem Dach zu wissen, dessen Tun und Trachten für mich ein Buch mit sieben Siegeln war.
Auf mir rätselhafte Weise war es ihm vor kurzem gelungen, sich diversen Arbeitshäusern als eine Art Betriebsarzt anzudienen, was zur Folge hat, dass er jetzt während der Nachmittagsstunden überwiegend aushäusig tätig ist. Am 11. Juli, mithin am letzten Montag, konnte ich aus einem Fenster des
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