Pendergast 03 - Formula - Tunnel des Grauens
Sie wissen selbst, wie umfangreich und schlecht geordnet das Archiv ist. Es wäre vergebliche Mühe, dort irgendetwas entdecken zu wollen.«
»Warum soll ich das tun?«, protestierte Nora lau. »Warum fordert das FBI die Akten nicht einfach an? Notfalls unter Androhung von Ordnungsstrafen?«
»Akten haben die Eigenschaft, plötzlich zu verschwinden, wenn sie offiziell angefordert werden. Aber Mr. Puck war immer sehr hilfsbereit, und er wird es zweifellos auch weiterhin sein. Außerdem ist da noch etwas: Tinbury McFaddens Tochter lebt noch. Sie wohnt in einem alten Haus in Peckskill. Sie ist fünfundneunzig, aber geistig sehr agil. Eine Ahnung sagt mir, dass sie ihr Wissen bereitwilliger mit Ihnen teilen würde als mit einem Vertreter des Federal Bureau of Investigation.«
»Sie haben mir bis jetzt nie erklärt, wieso Sie sich derart für diesen alten Fall interessieren.«
»Die Gründe sind unwichtig. Wichtig ist, dass niemand, der solche entsetzlichen Verbrechen begangen hat, ungeschoren davonkommt, auch dann nicht, wenn er längst tot ist. Das ist wie mit Hitler. Es ist wichtig, die Erinnerung an seine Untaten lebendig zu halten, denn die Vergangenheit ist Teil unserer Gegenwart. Im Augenblick sieht es sogar danach aus, dass sie
lebendiger
Teil der Gegenwart ist.«
»Sie reden von den beiden neuen Morden«, sagte Nora. Ganz New York redete darüber. Man konnte den Menschen auf der Straße das Wort »Nachahmungstäter« förmlich von den Lippen ablesen.
Pendergast nickte stumm.
»Glauben Sie wirklich, dass die Morde etwas miteinander zu tun haben? Dass irgendein Wahnsinniger Smithbacks Artikel gelesen hat und an Lengs Formel weiterarbeiten will?«
»Ja.« Pendergast nickte ernst. »Ich glaube, dass die Morde etwas miteinander zu tun haben.«
Es war inzwischen völlig dunkel geworden, die Water Street und die Piers lagen da wie im Tiefschlaf. Nora überlief ein Schaudern.
»Mr. Pendergast, ich würde Ihnen gern helfen. Aber wie schon gesagt, ich glaube nicht, dass ich noch irgendetwas fürSie tun kann. Und meiner Meinung nach sollten Sie sich eher um die neuen als um die alten Morde kümmern.«
»Genau das tue ich. Die Lösung des Rätsels um die neuen Morde liegt in den alten verborgen.«
Sie sah ihn verblüfft an. »Wieso das?«
»Es ist noch zu früh, darüber zu sprechen, Nora. Ich habe noch nicht auf alle Fragen Antworten gefunden. Streng genommen, habe ich Ihnen vielleicht schon zu viel erzählt.«
Nora seufzte. »Es tut mir Leid, aber ich kann mir einfach nicht leisten, meinen Job aufs Spiel zu setzen. Schon gar nicht, wenn ich keine schlüssigen Gründe dafür sehe. Ich hoffe, Sie werden das verstehen.«
Pendergast zögerte einen Augenblick, dann deutete er eine Verbeugung an und sagte: »Natürlich respektiere ich Ihre Entscheidung.«
Und Nora dachte: Komisch, bei ihm hört sich das überhaupt nicht gestelzt an.
Pendergast bat seinen Fahrer, ihn einen Häuserblock vor seinem Apartmenthaus abzusetzen, und als er aus dem Rolls-Royce gestiegen war, ging er, in Gedanken versunken, das letzte Stück zu Fuß. Nach einigen Schritten blieb er stehen und starrte auf das Haus, in dem er wohnte: das Dakota, eine große, überladene Residenz unweit vom Westeingang des Central Park. Aber im Geiste war es gar nicht dieses Gebäude, das er vor sich sah, sondern das kleine heruntergekommene Mietshaus in der Water Street, in dem Mary Green einst gewohnt hatte.
Ein Haus, das sicher keine Geheimnisse barg. Es wäre zwecklos gewesen, nach solchen zu suchen. Zumal es ihm nicht so sehr um Fakten und Personen ging, sondern darum, ein Gefühl dafür zu entwickeln, wie die Familie gelebt hatte und wie Mary hier aufgewachsen war. Der Exodus ihres Vaters von der Farm in die große Stadt – ein typisches Schicksal in der Zeit nach den Wirren des Bürgerkriegs. Mary hatte eineharte, entbehrungsreiche und dennoch glückliche Kindheit gehabt. Der Lohn eines Schauermanns sicherte der Familie ein bescheidenes Auskommen. Aber dann hatte die Cholera Marys Eltern dahingerafft, ihrem kleinen Glück ein jähes Ende bereitet und sie auf einen unheilvollen Weg geführt. Einen Weg, der für sie – und mindestens fünfunddreißig andere blutjunge Opfer – in einem unterirdischen Kohlenkeller enden sollte …
Eine Bewegung am Ende des Häuserblocks, die er aus den Augenwinkeln wahrnahm, riss ihn aus seinen Gedanken. Ein alter Mann, ganz in Schwarz, mit einem Bowler auf dem Kopf und einer Reisetasche in der Hand, kam ihm, auf
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