Pendergast 03 - Formula - Tunnel des Grauens
sie es absetzte. »So, jetzt wissen Sie es.« Pendergast sagte nur: »Mary Green hat ein paar Querstraßen von hier gewohnt, an der Water Street Nummer sechzehn. Das Haus gibt es immer noch. Nur ein paar Gehminuten entfernt.«
Nora sah ihn überrascht an. Sie hatte nie darüber nachgedacht, dass das Mädchen in dieser Gegend zu Hause gewesen war. Plötzlich fiel ihr der mit Blut geschriebene Brief ein. Sie hatte gewusst, dass sie sterben musste. Ihr letzter Wunsch war gewesen, nicht irgendwo anonym verscharrt zu werden.
Pendergast fasste sie sanft am Arm. »Kommen Sie!«
Sie wehrte ihn nicht ab. Draußen ging sie stumm neben ihm durch die quirligen Straßen, bis sie in eine der engen, dunklen Gassen abbogen, die zum East River hinunterführten. Chinatownlag hinter ihnen, die gespenstische Stille des alten Industriegeländes umfing sie. Das Licht der tief stehenden Sonne reichte gerade noch aus, um hier und da die Umrisse besonders hoher Gebäude auszumachen. An der Catherine Street bogen sie nach Südosten ab. Nora blickte neugierig zu den Mauern des neuen Wohnturms hinüber, den Fairhavens Arbeiter hochzogen. Nichts erinnerte mehr an den unterirdischen Tunnel und seine Geheimnisse.
Ein paar Minuten später waren sie in der Water Street angekommen. Alte Fabrikhallen, Lagerhäuser und halb verfallene Mietshäuser säumten die Straße. Vor einem blieb Pendergast schließlich stehen. Es war immer noch bewohnt, aus einem Fenster schimmerte gelbes Licht.
»Hier ist es«, sagte der Agent, »Nummer sechzehn.« Er starrte in die Dunkelheit. »Mary Green stammte aus einer Arbeiterfamilie. Als die kleine Farm ihres Vaters die Familie nicht mehr hatte ernähren können, war er mit seiner Frau und den Kindern hierher gezogen. Er arbeitete als Schauermann auf den Docks. Mary war fünfzehn, als ihre Eltern an der Cholera starben. Unsauberes Wasser. Ihr Bruder Joseph war sieben, ihre Schwester Constance fünf Jahre alt.«
Nora hörte ihm bedrückt zu.
»Mary hat versucht, ihre Geschwister und sich als Wäscherin und mit kleinen Näharbeiten durchzubringen, aber es hat anscheinend nicht für die Miete gereicht, sie waren gezwungen auszuziehen. Andere Arbeit gab es nicht, aber von irgendetwas mussten sie leben. Und so ist Mary, die ihren Geschwistern sehr zugetan war, schließlich Prostituierte geworden.«
»Wie schrecklich«, murmelte Nora.
»Es kam noch schlimmer. Mit sechzehn wurde sie aufgegriffen und eingesperrt. Das muss wohl der Zeitpunkt gewesen sein, von dem an Joseph und Constance als Gossenkinder gelebt haben. Man hat nie wieder von ihnen gehört, vermutlich sind sie verhungert. In New York wurde 1871 die Zahl solcher Gossenkinder auf achtundzwanzigtausend geschätzt. Marywurde später aus dem Gefängnis entlassen und in ein Arbeitshaus gesteckt, die so genannte Five Points Mission – im Grunde eine Einrichtung, in der Kinder ausgebeutet wurden. Aber weil es immerhin besser als das Gefängnis war, sah es auf den ersten Blick so aus, als sei für Mary Green ein glücklicher Lebensabschnitt angebrochen.«
Pendergast verfiel in Schweigen. Irgendwo auf dem Fluss heulte schaurig die Sirene einer Barke.
»Und was ist dann aus ihr geworden?«
Pendergast zuckte die Achseln. »Die amtlichen Unterlagen enden mit der Aufnahme in das Arbeitshaus.« Er wandte sich zu ihr um, sein bleiches Gesicht schien auf geheimnisvolle Weise von innen her zu leuchten. »Enoch Leng –
Doktor
Enoch Leng – hat sich Arbeitshäusern und Pensionen, darunter auch der Five Points Mission, als medizinischer Betreuer angedient. Ehrenhalber, ohne Bezahlung. Das war zwei Jahre vor dem verheerenden Brand in Shottums Kuriositätenkabinett. Wie wir wissen, hatte er dort einige Räume im obersten Stock angemietet. Aber er dürfte außerdem ein Haus in New York besessen haben.«
Nora seufzte. »Wir wissen doch bereits aus Shottums Brief, dass Leng die Morde begangen hat. Wieso brauchen Sie dann noch meine Hilfe?«
»Es finden sich so gut wie keine schriftlichen Unterlagen über Leng. Ich habe mich bei der Gesellschaft für amerikanische Geschichte, in der öffentlichen Bibliothek und in den städtischen Archiven umgesehen, es ist nichts über ihn aufzutreiben. Allmählich glaube ich, dass Leng selbst alles gelöscht hat, was ihn belasten konnte. Andererseits wissen wir, dass er ein früher Förderer des Museums war. Daher glaube ich, dass es im Archiv des Museums noch mehr Unterlagen gibt, die zumindest indirekte Hinweise auf ihn enthalten. Nur,
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