Pendergast 03 - Formula - Tunnel des Grauens
des Füllfederhalters ab und legte ihn auf der Seite bereit, auf der er die neuesten Beobachtungen und Erkenntnisse aus seinem Selbstversuch eintragen wollte.
Er hätte sich gern mehr Zeit gelassen, aber das wagte er nicht. Das Serum brauchte eine spezifische Temperatur; wartete man zu lange, entfaltete es nicht mehr seine volle Wirkung. Sein Blick huschte über die Tischplatte, das Seufzen, das sich von seinen Lippen rang, hörte sich fast ein wenig bedauernd an. Aber das musste ihm die Einbildung vorgaukeln, denn es gab nichts zu bedauern. Bereits Sekunden nach der Injektion waren alle körperlichen Gebrechen ausgelöscht und der Alterungsprozess wurde zuverlässig gestoppt. Um es auf einen kurzen Nenner zu bringen: Ihm blieb all das erspart, was drei Jahrtausende lang die größten Geister der Menschheit dahingerafft hatte.
Plötzlich in Eile, langte er nach dem Gummiriemen, zurrte ihn oberhalb des Ellbogens fest, fuhr mit dem Fingernagel über die Vene, bis sie leicht anschwoll, setzte die Nadel an, trieb sie sich langsam unter die Haut, schloss die Augen und wartete.
10
Bei der Abfahrt vom New Yorker Grand Central hatte es noch geregnet, über Peekskill jedoch strahlte die Morgensonne, und nur ein paar weiße Schäfchenwolken hingen wie Wattetupfen am blauen Himmel. Im alten Stadtkern reihten sich dreistöckige Ziegelsteingebäude aneinander, jenseits des Hudson führten am Rathaus und der Bibliothek vorbei schmale Straßen zu den felsigen Hügeln mit hübsch von Bäumen beschatteten, aber in die Jahre gekommenen Wohnhäusern, alle mit dem obligatorischen Rasenstück im Vorgarten. Doch selbst in dieser brüchigen Idylle fehlten dieWahrzeichen der Neuzeit nicht: eine Autoreparaturwerkstatt und ein gut sortierter Minimarkt. Und wenn sich auch ringsum der Zahn der Zeit bemerkbar machte, irgendwie hatte das Städtchen sich seinen Charme und seine Würde bewahrt.
Clara McFadden bewohnte ein Queen-Anne-Haus mit einem Giebeldach, zwei mit Butzenscheiben verglasten Türmchen und einer rundum laufenden Terrasse. Der einst weiße Anstrich fing bedenklich zu blättern an, aber der Garten mit den schönen alten Bäumen ließ die Spuren des beginnenden Verfalls vergessen. Nora, von dem steilen Anstieg schon leicht außer Atem, erklomm die Terrasse und zog an der schweren Bronzeglocke.
Eine Minute verstrich, dann noch eine. Sie wollte schon noch einmal an der Glocke ziehen, als ihr einfiel, dass die alte Dame ihr am Telefon gesagt hatte, sie solle einfach läuten und dann hereinkommen. Also drehte sie den schweren bronzenen Türknauf nach links und drückte die knarrende Haustür auf. Im Inneren roch es nach Staub, alten Gardinen und Katzen. Eine mit den Jahren brüchig gewordene Stimme rief ihr von irgendwoher zu: »Kommen Sie rein, meine Liebe!«
Nora folgte der Stimme und betrat zögernd den Salon. Nach dem hellen Sonnenlicht draußen hatte sie Mühe, sich in dem halbdunklen Raum zu orientieren, zumal die schmalen, hohen Fenster zur Hälfte mit schweren, mit Goldtroddeln verzierten Gardinen verhängt waren. Erst nach einer Weile vermochte sie das bleiche Gesicht der alten Dame und deren ebenso bleichen Hände auszumachen.
»Nur keine Bange, kommen Sie näher!«, forderte Clara McFadden sie auf und deutete auf einen Sessel. »Ich bin schon gespannt, was Sie von mir wissen wollen.«
Nora ließ sich in dem Sessel nieder, der, obwohl sie es behutsam tat, prompt ein Staubwölkchen aufsteigen ließ. »Danke, dass Sie sich Zeit für mich nehmen. Ich möchte mit Ihnen gern über Ihren Vater sprechen, über Tinbury McFadden.«
»Mein Kind, sagen Sie mir noch mal Ihren Namen? Alte Leute sind leider sehr vergesslich.«
»Nora Kelly.«
Die alte Dame griff nach dem Zugkettchen der Stehlampe neben ihr, und schwaches gelbes Licht fiel auf sie und ihre Besucherin. Immerhin, bekam Nora jetzt etwas mehr von ihrer Gastgeberin zu sehen. Ein alt gewordenes, eingesunkenes Gesicht, unter dessen wie gegerbt wirkender Haut sich blasse Adern abzeichneten. Clara McFadden musterte sie ein paar Atemzüge lang mit huschenden Augen, dann knipste sie die Lampe wieder aus. »Danke, Miss Kelly. Und was genau möchten Sie über meinen Vater hören?«
Nora nahm eine Mappe aus ihrer Umhängetasche und versuchte, im schummerigen Licht die Notizen zu entziffern, die sie sich im Zug gemacht hatte. Sie zögerte, wohl wissend, dass es zum Teil Fragen waren, durch die ihre Gastgeberin womöglich die Intimsphäre der Familie verletzt sehen konnte.
Die
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