Pendergast 03 - Formula - Tunnel des Grauens
mehr, er hatte genug gesehen,um sich erklären zu können, wie Leng seiner Opfer habhaft geworden war.
12
O’Shaugnessy stand an der Ecke Zweiundsiebzigste Straße und Central Park West und starrte auf den wie ein Torbogen geformten Eingang des Dakota. Hier, nicht weit von seiner Wohnung, musste Pendergast mit dem Messer attackiert worden sein. Das Einzige, worauf der Sergeant sich keinen Reim machen konnte, war die Geschichte von dem alten Mann mit dem Bowler. Rätselhaft, wie es dem Burschen um ein Haar gelungen sein sollte, einen FBI-Agent zu überwältigen, selbst wenn man das Überraschungsmoment berücksichtigte.
O’Shaugnessy seufzte und fragte sich zum wiederholten Mal, was er überhaupt hier zu suchen hatte. Er war nicht im Dienst, hätte eigentlich mit ein paar Freunden im
J. W.’s
sitzen, ein paar Bierchen stemmen, ein bisschen zu Hause herumpusseln oder sich die neue CD anhören können. Er machte unbezahlte Überstunden, und das, weil er seine Nase unbedingt in Dinge stecken wollte, die ihn nichts angingen. Das heißt, er war gar nicht so sicher, ob sie ihn nicht doch etwas angingen.
Captain Custer hatte den Vorfall natürlich als ganz normalen Raubüberfall abgetan. »Der Trottel muss sich nicht wundern, wenn er überfallen wird. Was treibt er sich auch nachts in abgelegenen Gegenden rum?« Nun, das wusste O’Shaugnessy besser. Pendergast gab sich vielleicht als Sonderling aus, spielte den verschrobenen Südstaatler, um Leute wie Custer auf Distanz zu halten, aber er war mit Sicherheit kein Trottel. Und ein stinknormaler Überfall war das auch nicht gewesen.
Heute Morgen hatte O’Shaugnessy den Agent im Krankenhaus besucht. Pendergast hatte angedeutet, dass er es sehrnützlich fände, einen Blick in den Bericht des Gerichtsmediziners werfen zu können, der die sterblichen Überreste aus dem Tunnel an der Baustelle untersucht hatte. Und ebenso nützlich, mehr Informationen über Fairhaven zu bekommen, den O’Shaugnessy jedoch, wie Custer unmissverständlich klar gemacht hatte, gefälligst in Ruhe lassen sollte. Der Sergeant ahnte, dass er irgendwie eine unsichtbare Linie überschritten hatte, seit er für Pendergast statt für Custer arbeitete. Es war ein völlig neues, nahezu erhebendes Gefühl: Zum ersten Mal arbeitete er mit jemandem zusammen, der in ihm den Spross einer Familie sah, in der die Männer seit fünf Generationen im Polizeidienst waren, statt bei jeder Gelegenheit auf der alten Geschichte mit der Prostituierten und den zweihundert Dollar herumzureiten. Zumal er das Geld ja nur dem Mädchen zuliebe genommen hatte. Und weil er es damals dringend gebraucht hatte, gestand er sich im Stillen ein.
Wie auch immer, die Erfahrung dieser neuen Art einer Zusammenarbeit war’s, die O’Shaugnessy an seinem dienstfreien Abend hierher trieb. Man lässt einen Partner nicht im Stich, wenn er in Schwierigkeiten steckt. Pendergast hatte ihm nicht viel über die Messerattacke erzählt, typisch für ihn, er sagte nie ein Wort zu viel. Aber für O’Shaugnessy sprach nichts für einen Raubüberfall.
Er erinnerte sich an seine Zeit an der Polizeiakademie. Da hatten sie ihnen eingebläut, dass man zuerst immer nach dem Motiv fragen musste. Wer hatte einen Grund, etwas zu tun, und die Gelegenheit dazu?
Also gut: Wer hatte einen Grund, Pendergast töten zu wollen? Der Agent untersuchte Morde, die über hundert Jahre zurücklagen. Motiv? Fehlanzeige. Der Mörder hatte längst das Zeitliche gesegnet.
Zweiter Anlauf: die Theorie von einem Nachahmungstäter. Wenn es den gab, stellte Pendergast für ihn zweifellos eine Gefahr dar. Der Agent war immer einen Schritt schneller. Er war zum Beispiel im Gerichtsmedizinischen Institut aufgetaucht,ehe die Autopsie überhaupt begonnen hatte. Und er hatte im Voraus gewusst, was sich dabei herausstellen würde. So wie er von Anfang an einen Zusammenhang zwischen den Verbrechen vor über hundert Jahren und dem Mord an der Touristin gewittert hatte.
Schlussfolgerung: Pendergast musste irgendetwas Wichtiges wissen, was außer ihm niemand wusste. Etwas so Wichtiges, dass der Mörder das Risiko eingegangen war, ihn anzugreifen. Und zwar um neun Uhr abends, an der Zweiundsechzigsten Straße, die weiß Gott nicht zu den finstersten Ecken New Yorks gehörte. Und das Verblüffendste war, dass es dem Mörder fast gelungen war, den Agent umzubringen.
O’Shaugnessy fluchte stumm in sich hinein. Das allergrößte Rätsel war Pendergast selber. Warum vertraute er ihm nicht?
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