Pendergast 03 - Formula - Tunnel des Grauens
die Augen und stellte sich ein in seinem Schädel installiertes, in helles Licht getauchtes Schachbrett vor. Dann setzte er zwei Spieler an das Brett. Der erste eröffnete mit der Wiener Partie. Sein Zug mit dem Damenspringer erwies sich als guter Entwicklungszug. Ein Bauernvorstoß diente dazu, den Königsspringer auf Warteposition zu belassen … Und je mehr die Spieler ihre Strategie verfeinerten, desto gedämpfter drangen die störenden Geräusche an sein Ohr.
Als einer der Spieler einen Zug tat, der den anderen schachmatt setzte, löschte Pendergast im Geiste die Vorstellung von einem Schachbrett aus und gruppierte stattdessen vier Spieler um einen Kartentisch. Bridge war für ihn, verglichen mit Schach, immer das raffiniertere, subtilere Spiel, er hatte es nur kaum noch gespielt, weil er seit dem Tod seiner engsten Angehörigen keine ebenbürtigen Partner mehr fand. Aber das spielte jetzt keine Rolle, er wollte ohnehin gegen sich selbst spielen. Keiner der vier Spieler, die er repräsentierte, kannte mehr als seine eigenen dreizehn Karten, jeder entwickelte, je nach seinen intellektuellen Fähigkeiten, seine eigene Strategie. Und zugleich ging Pendergasts Strategie auf: Als das erste fiktive Paar die zweiten hundert Punkte, den so genannten Robber, erreicht hatte, waren alle Störfaktoren eliminiert. Wohltuende Stille hüllte ihn ein, nun konnte er sich ganz in sich selbst versenken.
Ein paar Minuten intensiver mentaler Konzentration, dann war er so weit. Im Geiste sah er sich, leicht wie ein Luftgeist, aus dem Bett schweben, durch die Krankenhausflure wandern, die große, geschwungene Treppe hinunter, durch denEingangsbereich und weiter bis zu den breiten Stufen vor dem Gebäude gehen. Als er sich draußen umwandte, lag hinter ihm nicht mehr das Krankenhaus, sondern wieder – genau wie vor einhundertzwanzig Jahren – das New Yorker Altenheim für Bedürftige.
Er versuchte sich in der zunehmenden Dämmerung zu orientieren. Westlich von ihm, Richtung Central Park, erstreckte sich an der Upper East Side inmitten unbebauter, steiniger Felder eine Ansammlung kleiner Schweinemastfarmen. Die Gaslampen entlang der Avenue warfen schwache Lichtkegel auf den bäuerlich geprägten Distrikt. Es roch nach Kohleöfen, feuchter Erde und Pferdemist. Pendergast nahm alles nur in groben Zügen wahr, das genügte ihm vollauf, die Details waren unwichtig.
Er stieg die Stufen hinunter und folgte der Sechsundsiebzigsten Richtung Flussufer. Hier wurde die Besiedlung dichter, neuere Ziegelsteinbauten verdrängten zunehmend die alten Fachwerkhäuser. Kutschen rumpelten über die mit Stroh bestreuten Straßen, Fußgänger eilten stumm ihres Wegs, die Männer im Gehrock, die Frauen in bauschigen, um die Hüftpartie ausgepolsterten Kleidern und verschleierten Hüten.
An der nächsten Kreuzung stieg er in eine Straßenbahn und bezahlte fünf Cent für die Strecke bis zur Zweiundvierzigsten. Dort stieg er in die Hochbahn um, was ihn zwar happige zwanzig Cent kostete, ihm aber einen Platz im Luxuswaggon mit Plüschpolsterung und Vorhängen an den Fenstern sicherte. Die Dampflokomotive schmückte sich mit dem Namen
Chauncey M. Depew
. Während sie die Waggons nach Süden zog, ruhte er sich in seinem komfortablen Sitz aus. Es störte ihn nicht, dass er wieder in eine laute Welt eingetaucht war, im Gegenteil, er lauschte begierig dem Rumpeln der Stahlräder auf den Schienen und dem lauten Geplauder der Fahrgäste, das um die gerade aktuellen Themen des Jahres 1881 kreiste: Die wundersame Genesung des Präsidenten, die bevorstehende Verlegung des Pistolenballs … und die Segelregattades Columbia Yacht Clubs, die an diesem Nachmittag auf dem Hudson ausgetragen worden war …
Als der Zug die tiefer gelegenen Gebiete der Bowery und damit Pendergasts Ziel erreichte, machte er sich auf den Weg zur Plattform, stieg aus und blieb eine Weile stehen, um sich das Bild der Umgebung einzuprägen. Die Gleise der Hochbahn lagen etwas oberhalb der Straße in einem mit Asche und Ölflecken übersäten Schotterbett. Kurz darauf kündigte die
Chauncey M. Depew
mit einem schrillen Pfiff ihre Weiterfahrt an und dampfte Sekunden später ungestüm los, als könne sie’s kaum erwarten, die nächste Station zu erreichen.
Pendergast stieg die steile Holztreppe hinunter und tauchte in das quirlige Straßenleben ein. Im Vorbeigehen las er auf einem Schild:
George Washington Abacus – Professor für physiognomische Korrekturen und kunstvolle Gestaltung des
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