Pendergast 03 - Formula - Tunnel des Grauens
unverhofften Geldsegen.
»Wie heißt du, Kind?«, fragte Pendergast freundlich.
Die Kleine sah ihn verdutzt an, sie war es wohl nicht gewöhnt, dass Erwachsene ihr überhaupt Beachtung schenkten. »Constance Green, Sir«, murmelte sie.
»Green?« Pendergast runzelte die Augenbrauen. »Aus der Water Street?«
»Nein, Sir.« Und dann zögernd, mit verschämter Stimme: »Nicht mehr.« Irgendetwas schien ihr Angst zu machen, plötzlich drehte sie sich um und rannte davon.
Pendergast, der ihr trauriges Geschick kannte, sah ihr betroffen nach. Als er weiterging, waren seine Schritte langsamer geworden, als müsse er eine schwere Last mitschleppen. Schließlich riss ihn die eintönige Litanei, mit dem ein Ausrufer vor einem Lokal die Speisekarte herunterleierte, aus seinen trüben Gedanken: »Leckerleckerlammkotelettmitkapernsoße. Rrroastbeefroséoderdurchgebraten. Frischeschweinelendchenmitsalatundgemüse. Tretensieeinsiewerdenzufriedensein.«
In der Ferne läutete die Feuerglocke immer noch Alarm, Pendergasthörte es nur im Unterbewusstsein, er ging wie in Trance weiter. Erst zwei Querstraßen weiter blieb er abrupt stehen. Auf einmal war er hellwach, sein Blick sog jedes Detail auf. Vor ihm mündeten die Baxter und die Worth Street in eine Kreuzung, die wegen des unübersichtlichen Gewirrs von Straßen und Gassen allgemein nur die Five Points genannt wurde: eines der ödesten, trostlosesten Wohngebiete der Stadt.
Dreißig Jahre zuvor, in den fünfziger Jahren des neunzehnten Jahrhunderts, waren die Points der übelste Slum in ganz New York gewesen, schlimmer als Londons Seven Dials: ein Sammelbecken für Kriminelle, Taugenichtse aller Art, Prostituierte, Obdachlose und Verzweifelte. In den Schlaglöchern und tief eingegrabenen Fahrspuren der Straße wühlten Schweine nach Abfällen, aus den wegen der Hitze weit geöffneten Fenstern der Tavernen stank es nach Alkohol und billigen Zigarren, in Türnischen warteten barbusige Huren auf Freier.
Pendergast nahm das Szenario aufmerksam in sich auf, prägte sich, immer auf der Suche nach einem hilfreichen Fingerzeig, die Topografie und die Architektur sorgfältig ein, aber die Hoffnung, aus dieser Reise in eine noch weiter zurückliegende Vergangenheit Erkenntnisse zu ziehen, war vergeblich. Schließlich wandte er sich nach Osten, in Richtung des fünfstöckigen Gebäudes der alten Brauerei. Diese Gegend war einst die verrufenste der Five Points gewesen. Die Brauerei war längst aufgegeben worden und nun, dank des Engagements einer karitativen Gruppe, zur Five Points Mission umgestaltet worden – eines der ersten Projekte neuzeitlicher Stadtsanierung. In dieser Mission hatte Dr. Enoch Leng den Menschenfreund gespielt und ohne Bezahlung als medizinischer Berater gewirkt. Bis in die neunziger Jahre, dann war er spurlos untergetaucht. Pendergast überlegte, ob er sich das Innere des Gebäudes ansehen solle, verwarf den Gedanken jedoch rasch, weil ihm eine andere Visite dringlicher erschien.
Hinter der Five Points Mission verlief eine schmale Gasse, die freilich nach einigen Metern im Nichts endete. Aus dem Dunkel der Gasse schlug Pendergast feuchte, übel riechende Luft entgegen. Vor vielen Jahren, als die Gegend um die Points noch ein sumpfiger See gewesen war, hatte ein Mann namens Aaron Burr hier eine tief in den Boden getriebene Pumpanlage installiert und die New Amsterdam Water Company gegründet, um die natürlichen Quellen nutzen zu können. Da das Wasser aber immer schmutziger und übel riechender aus dem Boden sprudelte, wurde die Anlage abgebaut, der Sumpf zugeschüttet und das so gewonnene Land als Baufläche für Mietshäuser ausgewiesen.
Später erhielt die schmale Gasse den Namen Cow Bay und galt als gefährlichste Straße in den Five Points. Die aus Holz errichteten Mietshäuser trugen bezeichnenderweise Namen wie »Villa der Wurfgeschosse« oder »Tor zur Hölle«. In ihnen hausten gewalttätige Alkoholiker, die jeden, der sich zu ihnen verirrte, skrupellos abstachen, nur um sich seine Kleidung anzueignen. Wie in vielen Straßen der Five Points gab es auch hier unterirdische Laufgänge, über die die Kriminellen sich bei Razzien der Polizei unbemerkt absetzen konnten. In der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts wies der Polizeibericht im Schnitt pro Nacht einen Mord auf. Später mussten die Mietshäuser einem Transportunternehmen, einem Schlachthaus und der Pumpstation des städtischen Wasserwerks weichen, die aber schon 1870, nach der Fertigstellung des
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