Pendergast 03 - Formula - Tunnel des Grauens
Haares.
Trams und Pferdekutschen verstopften die Straße, auf den schmalen Bürgersteigen priesen Händler und Hausierer ihre Waren und Dienste an. »Austern, verehrte Damen und Herren, frisch aus dem Meer!«, rief eine junge Frau, und ein Kesselflicker schrie lauthals dagegen an: »Töpfe oder Pfannen, jedes Loch wird im Nu gestopft!« Pendergast hatte Mühe, sich einen Weg zu bahnen, eine Weile fühlte er sich so abgelenkt, dass rings um ihn alles in Nebel zu versinken drohte. Aber er riss sich zusammen, bis das Szenario sich wieder klar abzeichnete. Er bewegte sich wie ein Traumwandler durch das Gedränge und achtete kaum noch darauf, was sich rings um ihn abspielte.
An einer Straßenecke orientierte er sich kurz und bog in die East Broadway Street ein. Nach dem lebhaften Treiben tauchte er in eine fast gespenstisch stille Welt ein, die zahllosen Geschäfte und Werkstätten hatten zu dieser späten Stunde schon geschlossen, was sich aber, als er an der Catherine Street zum Flussufer abgebogen war, schlagartig änderte. Hier hatten die Geschäfte und Lokale – Grogbars, Seemannsheime und Austernkeller – bis spät in die Nacht geöffnet,ihre grelle Lichtreklame malte rote Streifen auf die Straßen. Ziemlich weit hinten ragte ein lang gestreckter, im neugotischen Stil errichteter Ziegelsteinbau auf. Über der Eingangstür hing ein schwarzes Holzschild mit goldenen Buchstaben:
J. C. Shottums Kabinett der Naturwunder und Kuriosiäten
Drei nackte, durch Drahtgitter geschützte elektrische Glühbirnen warfen grelles Licht auf die Straße, vor dem Eingang drängten sich Schaulustige. Ein stimmgewaltiger Ausrufer stand unter der Tür und pries die Attraktionen des Hauses an. Aber so wacker er sich auch abmühte, seine Worte gingen im Geschnatter der Umstehenden unter. Pendergast musste sich an Hand der neben der Tür aufgestellten Klapptafel informieren:
Versäumen Sie nicht, das Kind mit den zwei Gehirnen zu besichtigen! Besuchen Sie unsere neue Show: Bezaubernde junge Damen nehmen vor Ihren Augen ein Bad in echtem Wasser!
Pendergast stand an der Ecke und wartete, bis er den Rest der Stadt ausgeblendet und seine Sinne ganz auf das Gebäude vor ihm fokussiert hatte. Als er so weit war, reihte er sich in die Warteschlange ein, bezahlte seine zwei Penny und betrat das Kuriositätenkabinett. Im Foyer erwarteten ihn ein Mammutschädel, daneben ein von Motten zerfressener Kodiakbär, ein indianisches Kanu aus Birkenholz, gegenüber ein versteinerter Baumstamm und der riesige Oberschenkel eines Monsters aus dem Antediluvium – ein Sammelsurium, das jegliche Systematik vermissen ließ. Andererseits, in einer Zeit, in der es weder Kinos noch Fernsehen oder Radio gab und Reisen ein Privileg der Begüterten waren, konnte es nicht verwundern, dass das Publikum für jede Art der Zerstreuung dankbar war. Außerdem wusste Pendergast, dass die besseren Ausstellungsstücke in den Räumen gezeigt wurden, zu denen die links und rechts abzweigenden Flure führten.
Der erste Raum enthielt eine systematische Sammlung ausgestopfter Vögel. Aber die gähnende Leere bewies, dass derhalbherzige Versuch, den Leuten ein wenig naturkundliches Wissen zu vermitteln, keinen rechten Anklang fand.
Da lockten Ausstellungsräume wie der nächste die Besucher schon eher an: Gleich am Eingang empfing sie ein mumifizierter braunhäutiger Mann, dessen gegerbte Haut auf ein hohes Alter schließen ließ. Und tatsächlich, ein Schildchen an der Wand behauptete kühn:
Pygmäe aus dem finstersten Afrika, der ein Lebensalter von dreihundertfünfzig Jahren erreichte, ehe er am Biss einer Schlange verstarb
. Bei näherer Inaugenscheinnahme stellte sich freilich heraus, dass es sich um einen Orang-Utan handelte, dem man die Haare abrasiert und durch geschickte Manipulationen ein menschenähnliches Aussehen verliehen hatte, um ihn dann, vermutlich in der Räucherkammer, zu konservieren.
Nicht weit davon lag in einem schräg an die Wand gelehnten hölzernen Sarkophag eine angeblich ägyptische Mumie. Die Attraktion des Raumes war zweifellos ein seines Kopfes beraubtes Skelett, bei dem es sich, wenn man dem Schildchen glaubte, um
die sterblichen Überreste der ob ihrer Schönheit gerühmten Komtess Adele Brissac
handelte,
1789 zu Paris auf der Guillotine hingerichtet
. Daneben lag ein rostiges, mit roter Farbe bekleckertes Stück Metall, das, wiederum dem Schild nach, eben jene Klinge war,
die ihr das Haupt abgetrennt hatte
. Pendergast stand in der Mitte des
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