Pendergast 03 - Formula - Tunnel des Grauens
zentralen Wasserreservoirs, ihren Betrieb einstellte.
Pendergast bog nach links in die Little Water Street ab, an deren Ende das Five-Points-Arbeitshaus samt angeschlossenem Wohnheim lag, eine Zufluchtsstätte für Entwurzelte und Verzweifelte, in der Leng, wiederum kostenlos, als medizinischer Berater tätig gewesen war. Pendergast starrte auf das hohe, im Beaux-Art-Stil errichtete, an der Rückseite von einem Turm überragte Gebäude und zu den von Brüstungenumrahmten Fenstern hinauf. Warum hatte Leng dem Arbeitshaus im Jahr 1880, wenige Monate vor der Feuersbrunst im
Shottum’s
, das Angebot medizinischer Betreuung gemacht? Weil er hoffte, seine Opfer leichter in einem Arbeitshaus mit eigenem Wohnheim zu finden? Kaum anzunehmen, zumal er nicht erwarten konnte, dass niemand Verdacht schöpfte, wenn immer wieder junge Menschen auf mysteriöse Weise verschwanden. Also, warum hatte er sich ausgerechnet diese Mission in den Five Points ausgesucht, obwohl es in Lower Manhattan genug andere gegeben hätte? Was zog ihn an dieser trostlosen, verrufenen Gegend so magisch an?
Pendergast ließ den Blick nachdenklich über das Kopfsteinpflaster der Little Water Street schweifen. Von allen Straßen, die er bei seiner virtuellen Exkursion durchwandert hatte, war die Little Water die einzige, die sich im zwanzigsten Jahrhundert auf keinem Stadtplan mehr fand. Sie war planiert, überbaut und ihr Name vergessen worden.
Ein Mann in abgerissener Kleidung, der einen Pferdekarren hinter sich herführte, kam die Straße entlang, ein paar Schweine trotteten hinter ihm her. Er schwang eine Glocke, um die Anwohner auf sich aufmerksam zu machen. Pendergast hielt ihn für einen Lumpensammler, der für wenige Pennies bereit war, Abfälle und alten Trödel zu entsorgen.
Pendergast kehrte in die schmale, zur Cow Bay führende Gasse zurück. Weil die Little Water Street auf neueren Karten nicht mehr verzeichnet war, fiel ihm die Orientierung zunächst ein wenig schwer. Als er jedoch am Eingang der Gasse stand, wurde ihm die Lösung des Rätsels schlagartig klar: die beiden Arbeitshäuser, in denen Leng so selbstlos gewirkt hatte, grenzten an die berüchtigten alten Mietshäuser an. Die hölzernen Gebäude waren verschwunden, aber das unterirdische Netz aus Geheimgängen und die versteckten Keller und Tunnel gab es immer noch.
Er stand stumm da und musterte die Umgebung. DasSchlachthaus, die Eisfabrik, die später aufgegebene Pumpstation … auf einmal fügte sich eins zum anderen und ergab einen logischen Sinn.
Nachdenklich, mit langsamen, weit ausholenden Schritten kehrte er zur Baxter Street zurück und wandte sich dort nach Norden. Er hätte seine Exkursion natürlich hier abbrechen und in die Gegenwart der flimmernden Fernsehapparate und Monitore zurückkehren können, aber er zog es vor, noch eine Weile in seiner mentalen Übung zu verharren und alle Eindrücke, die er gesammelt hatte, mit ins Lenox-Hill-Krankenhaus zu nehmen. Dazu kam, dass er neugierig war, ob die Feuerwehr den Brand im
Shottum’s
unter Kontrolle gebracht hatte. Mal sehen, vielleicht würde er sich im Stadtzentrum eine Pferdedroschke nehmen. Nein, lieber doch nicht, es reizte ihn mehr, zu Fuß bis zum Madison Square Garden zu gehen, am
Delmonico’s
und den prächtigen Vergnügungspalästen an der Fifth Avenue vorbei. Es gab so vieles, worüber er nachdenken musste, viel mehr, als er sich je ausgemalt hatte. Und zum Nachdenken eignete sich das Jahr 1881 genauso gut wie jedes andere.
14
Als Nora sich an der Anmeldung nach dem Weg zu Pendergasts Zimmer erkundigte, merkte sie an der leicht genervten Reaktion der Schwestern, dass der Agent sich offenbar im Lenox keiner größeren Beliebtheit erfreute als zuvor im St. Luke’s-Roosevelt.
Sie fand ihn im Bett vor, Sonnenschutzlamellen dunkelten das Zimmer ab. Er sah sehr müde und grau aus, das weißblonde Haar hing ihm schlaff in die Stirn. Als sie eintrat, schlug er mit Mühe die Augen auf.
»Entschuldigung«, sagte sie, »ich komme anscheinend zu unpassender Zeit.«
»Überhaupt nicht, ich habe Sie ja um Ihren Besuch gebeten. Bitte räumen Sie den Stuhl leer und nehmen Sie Platz!«
Während Nora damit beschäftigt war, die Bücherstapel und sonstigen Unterlagen auf dem Boden zu deponieren, fielen dem Agent erneut die Augen zu. Er schlug sie zwar wieder einen Spalt weit auf, aber sie sah ihm an den tief hängenden Lidern und den blassen Augäpfeln an, dass er Raubbau mit seinen Kräften getrieben hatte. Ihre
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