Pendergast 04 - Ritual - Höhle des Schreckens
eine Geistererscheinung von einer unterirdischen Kammer zur anderen. Der gelbe Lichtschein seiner Grubenlampe bohrte sich ins verschwommene Halbdunkel und wies ihm den Weg durch die verschlungenen Kellerflure. Heute hatte er zum ersten Mal sein Klemmbrett nicht unterm Arm. Es lag neben dem Laptop, weil er seine Notizen nach diesem letzten Rundgang mit nach oben nehmen wollte. Acht Wochen faszinierender, wenn auch kräftezehrender Arbeit lagen hinter ihm, und die Katalogisierung der Schätze, die dieses private Kuriositätenkabinett barg, war so gut wie abgeschlossen. Pendergast würde sehr zufrieden sein.
Es war, wie er festgestellt hatte, eine wirklich bemerkenswerte Sammlung, viel umfangreicher, als Pendergast es sich träumen ließ. Sie spiegelte nahezu das ganze Spektrum der Schätze wider, die ein Sammlerherz sich wünschen konnte – und zwar von allem das Feinste: Edelsteine, Fossilien, Schmetterlinge, Edelmetalle, botanische Kostbarkeiten, Gifte, ausgestorbene Pflanzen und Tiere, Münzen, Waffen und sogar Meteoriten. Jede Kammer, jeder Schrank und jede Vitrine hatten sich als Fundgrube neuer Wunder entpuppt. Es war zweifellos die größte Sammlung, die je ein Mensch zusammengetragen hatte.
Ein quälender, geradezu beschämender Gedanke, dass kaum Aussicht darauf bestand, all diese Schätze einem breiten Publikum zugänglich zu machen. Zumindest vorerst nicht. Wenn Wren daran dachte, dass all das Pendergast gehörte und nicht ihm, konnte er ein gewisses Neidgefühl nicht unterdrücken.
Er setzte seinen Rundgang durch die in Halbdunkel getauchten Kammern fort. Es war wie ein Abschied von einem lieb gewordenen Ort. Schließlich blieb er an einer Stelle stehen, die ihm besonders ans Herz gewachsen war. Seinen Zaubergarten nannte er sie insgeheim, weil das Licht der Grubenlampe hier, wohin es auch fiel, tausendfältig von verglasten Vitrinen, Teströhrchen, Messbechern und metallenen Labortischen widergespiegelt wurde. Der blitzende, schimmernde Spuk schien von allen Seiten gleichzeitig zu kommen – ein traumhaft schöner Anblick. Und dahinter, gleich hinter dem letzten Labor, begann der Bereich, den er im Stillen den verbotenen Ort nannte. Pendergast hatte ihm eindringlich eingeschärft, nie in diesen Teil der Gewölbe einzudringen.
Er wandte sich seufzend um und trat den Rückweg an. Der Rundgang erinnerte ihn an Edgar Allan Poes Geschichte
Die Maske des Roten Todes.
In ihr wird erzählt, wie Prinz Prospero während einer grauenhaften Seuche für seinen Maskenball einige hintereinander liegende Kammern phantasievoll und bizarr ornamentiert ausgeschmückt hatte. Die letzte, die siebte Kammer jedoch war mit nachtschwarzem Samt und blutroten Fensterscheiben versehen und enthielt eine riesige Uhr aus Ebenholz.
Wren konnte der Versuchung nicht widerstehen, noch einmal zurückzublicken und den Lichtstrahl auf die niedrige, fest verschlossene Tür zu richten, die zum verbotenen Ort führte. Er hatte sich immer wieder gefragt, was wohl hinter dieser Tür verborgen sein mochte. Aber, sagte er sich, vielleicht war es besser, es nicht zu wissen. Außerdem drängte es ihn, ins Erdgeschoss zurückzukehren, wo in der Bibliothek ein Kleinod auf ihn wartete: das indianische Beschwörungsbuch. Endlich darin blättern zu können reizte ihn noch mehr als all die Schätze, die hier unten lagerten und die er mit so viel Mühe katalogisiert hatte. Zumindest würde er sie für eine Weile vergessen können.
Und auf einmal war das Geräusch wieder da! Leises Rascheln von Stoff und das beharrliche Echo von Schritten!
Wren war daran gewöhnt, während seiner Arbeit von Dunkelheit umgeben zu sein, eine Erfahrung, die seinen Gehörsinn weit überdurchschnittlich geschärft hatte. Während seiner Arbeit hier unten in den Gewölben hatte er das Geräusch hin und wieder deutlich wahrgenommen. Kein Zweifel, es kam von raschelndem Stoff und verstohlenen Schritten. Und er hatte auch wiederholt das Gefühl gehabt, heimlich beobachtet zu werden, während er ein Schubfach aufzog oder sich ein paar Notizen machte. Das Gefühl hatte ihn zu oft beschlichen, als dass es nur auf Einbildung beruhen konnte.
Während er weiter durch die Gewölbe eilte, schob er die Hand in seinen Laborkittel und umfasste den Griff des Buchmessers. Die Klinge war schmal, aber er hatte sie erst vor kurzem erneuert, sie war sehr scharf.
Als er einen Schritt zulegte, passte der unsichtbare Verfolger sich seinem Tempo an.
Wren versuchte, unauffällig herauszufinden,
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