Pendergast 04 - Ritual - Höhle des Schreckens
gefangen hatte.
Los, denk nach!, befahl er sich stumm, denk nach, woher du gekommen bist!
Er versuchte, sich im rötlich schummrigen Licht der UV-Lampe zu orientieren. Er erinnerte sich, dass er durch einenschmalen Felsspalt mit sandigem Boden gerannt war. Na also! Dann musste es möglich sein, seine Fußspuren im Sand auszumachen und ihnen zu folgen.
Nach einem letzten Blick auf das Indianergrab, das er in seiner ohnmächtigen Wut geschändet hatte, kehrte er zu dem Felsspalt zurück. Erst jetzt entdeckte er Dinge, die er bei seiner überhasteten Flucht nicht wahrgenommen hatte. Fast in jeder Seitennische lagen Knochen und hohle Schädel, daneben Grabgaben in Form von bunt bemalten Tontöpfen und gebündelten Pfeilen. Er fühlte sich an ein Mausoleum, eine indianische Katakombe erinnert. Ein Schaudern überlief ihn.
Erleichtert sah er, dass die Begräbnisstätten bald hinter ihm lagen. Der Felsspalt wurde breiter, zugleich senkte sich aber die mit bedrohlich wirkenden Stalaktiten gespickte Decke immer mehr ab. Der Sandboden machte flachen Wasserlachen Platz, Raskovich kam sich fast wie auf einer Reisplantage vor. Je weniger Sandboden übrig blieb, desto schwieriger wurde es allerdings, die eigenen Fußspuren auszumachen.
Zwei Öffnungen boten sich vor ihm an, eine breitere und eine schmale, zudem stellenweise durch herabgestürzte Sandsteinbrocken blockierte Höhle. Für welche sollte er sich entscheiden?
Denk nach, du Arschloch! Erinnere dich!
Aber es half alles nichts, er konnte sich einfach nicht entsinnen, auf welchem Weg er hergekommen war. Den Gedanken, laut nach den anderen zu rufen, verwarf er rasch wieder. Wenn die Witterung, die Leftys Hunde aufgenommen hatten, nicht von einem Phantom, sondern von einem Menschen aus Fleisch und Blut stammte, konnte der Mörder sich irgendwo in der Nähe herumtreiben und es auf ihn abgesehen haben. Das verdammte Höhlensystem glich einem Labyrinth. Doch wenn er sich Zeit nahm und nicht in Panik verfiel, würde er trotzdem einen Weg ins Freie finden. Zumal er hoffte, dass Hazen und die anderen immer noch nach ihm suchten und ihn nötigenfalls hier herausholten.
Er entschied sich für die breitere Öffnung und sah sich, je weiter sich die Höhle erstreckte, in seiner Wahl bestätigt. Irgendwie kam ihm das Gewölbe bekannt vor. Und als er dann im rötlichen UV-Licht auf einem Felssims eine Ansammlung von Gegenständen auszumachen glaubte, war er nahezu sicher, dass er den richtigen Weg eingeschlagen hatte. Er ging auf das Sims zu. Zuerst sah er nur einen Indianerschädel, Knochen und etliche Federn und Pfeilspitzen. Wieder eine Begräbnisstätte? Aber die Fundstücke waren ganz anders angeordnet, als er es von Abbildungen in Fachbüchern oder von Museumsbesuchen kannte. Das Ganze sah seltsam würdelos aus, zumal es auch ein Sammelsurium von Gegenständen enthielt, die mit Sicherheit nicht indianischen Ursprungs waren: plumpe, aus Stricken und Zwirn gebastelte Puppen, einen zerbrochenen Bleistift, eine verrottete Holztafel mit den Buchstaben des Alphabets und die Porzellanscherben eines Puppenkopfes.
Gott im Himmel, wer hatte diesen wertlosen Schund wohl gesammelt? Das waren bestimmt keine Antiquitäten!
Und da hörte er plötzlich hinter sich einen Laut, ein tiefes Grunzen.
Raskovich erstarrte zur Salzsäule. Lange hielt er den Versuch, sich tot zu stellen, aber nicht durch. Der Drang, sich umzudrehen, wurde immer zwingender, und als er ihm nachgab und langsam, unsäglich langsam den Kopf wandte, verschlug ihm das, was er sah, den Atem. Also doch ein Fabelwesen! Noch dazu ein grotesk missgebildetes! Der Anblick war so grauenhaft, dass er sich ihm unvergesslich einprägte.
Obwohl, eigentlich konnte es nur eine Sinnestäuschung sein. Welcher ausgewachsene Kerl zwängte seine gewaltigen Beine in derart knapp sitzende Shorts? Und trug Hosenträger, auf denen sich alle paar Zentimeter das kitschige Motiv eines auf der Hinterhand aufbäumenden Mustangs wiederholte? Ganz zu schweigen von dem unmöglichen, zerknitterten, an mehreren Stellen eingerissenen, mit Kometen und Raumschiffenbedruckten Hemd! Und dazu dieses Gesicht: ein – falls es so etwas gab – zur Fratze verzerrtes Engelsgesicht…
Das Fabelwesen kam auf ihn zu. Raskovich rührte sich nicht von der Stelle, er starrte die Erscheinung nur ungläubig an. Und plötzlich holte ein fleischiger Arm aus und versetzte ihm einen Schlag, der ihn von den Beinen riss und mit solcher Wucht zu Boden warf, dass die
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