Pendergast 04 - Ritual - Höhle des Schreckens
lokale Probleme zu entlocken.
»Gott legt uns Prüfungen auf, aber er begleitet uns auch mit seinem Segen. Wir alle tragen schwer an Adams Erbsünde, aber wenn jemand den Talar angelegt hat, spürt er sie möglicherweise mehr als andere.« Pastor Wilburs Miene hatte den verklärten Glanz der eines Märtyrers angenommen.
Ludwig kannte den Ausdruck nur zu gut, er ahnte, dass der Pastor gleich einige der Zitate zum Besten geben würde, mit denen er fast jede Predigt ausschmückte.
»›Denn ach, wer ist es denn, der rastlos sich bemüht, die anvertraute Herde auf den rechten Pfad zu führen?‹« Er musterte den Mann im schwarzen Anzug selbstgefällig über den Rand seiner Lesebrille. »Milton. Ist Ihnen sicher ein Begriff.«
»Natürlich. Aus seiner Elegie
Lycidas.«
Wilbur sah ihn leicht verunsichert an. »Ja, ich glaube, da haben Sie Recht.«
»Übrigens fällt mir gerade eine andere Zeile aus diesem Werk ein. ›Die hungrigen Schafe blicken auf ihren Hirten, aber sie werden nicht gesättigt.‹«
Ludwigs Blick pendelte zwischen dem Pastor und Pendergast hin und her. Er spürte, dass sich eine gewisse Spannung zwischen den beiden Männern aufbaute, kam aber nicht dahinter, worum es bei dem verhaltenen Geplänkel ging.
»Nun«, schob Pendergast in liebenswürdigem Ton jeder denkbaren Verstimmung einen Riegel vor, »ich bin sicher, dass wir uns am Sonntag in Ihrer Kirche wieder sehen. Und ich darf Ihnen versichern, dass ich mich darauf freue.«
Wilbur war sichtlich erleichtert. »Äh – ja. Ganz meinerseits. Ich meine, ich freue mich ebenfalls.«
Und da dröhnte plötzlich Art Ridders durch das Mikrofon verstärkte Stimme durch den Saal. »Meine Damen und Herren, darf ich um Ihre geschätzte Aufmerksamkeit bitten! Unser Ehrengast würde gern einige Worte an Sie richten. Dr. Chauncy, wenn Sie freundlicherweise das Mikrofon übernehmen…«
An allen Tischen wurden die Gabeln weggelegt, die ungeteilte Aufmerksamkeit galt dem Mann auf dem Podium.
»Verbindlichsten Dank.« Chauncy bedachte den Gro-Bain-Manager mit einem kurzen Kopfnicken, dann wandte er sich an die Anwesenden. »Mein Name ist Stanton Chauncy, ich spreche zu Ihnen im Auftrag der Kansas State University, ander ich die Kommission für die Förderung moderner landwirtschaftlicher Methoden leite.« Seine hohe Stimme und die ein wenig verkrampfte Art, in der er am Podium stand, wirkten affektiert.
»Die genetische Weiterentwicklung des Maisanbaus ist ein äußerst kompliziertes Thema, das ich vor einem Auditorium wie diesem auf keinen Fall erschöpfend behandeln kann. Ein tieferer Einstieg in die Materie setzt gewisse Grundkenntnisse auf den Gebieten der organischen Chemie und der Biologie voraus, die ich sicher nicht als gegeben betrachten darf. Dennoch werde ich heute Nachmittag den Versuch unternehmen, Ihnen einen hinlänglich ausreichenden Überblick über die Zusammenhänge zu vermitteln.«
Das Interesse der Zuhörer schien schlagartig zu erlahmen.
Das unisono zu vernehmende enttäuschte Schnaufen hörte sich an, als würde aus einem prall gefüllten Ball die Luft herausgelassen. Statt sofort – nicht erst am Nachmittag – zur Sache zu kommen, dozierte der Mann am Podium über die spezifischen Eigenschaften verschiedener Maissorten, und das in einer Ausführlichkeit, die selbst engagierte Farmer nur langweilen konnte. An allen Tischen griffen die Zuhörer wieder zur Gabel, einige traten einen kleinen Rundgang an, um später gekommene Bekannte zu begrüßen, und die Mienen von Dale Estrem und seinen Mitstreitern von der Farmergenossenschaft wurden zunehmend finsterer.
Ludwig warf einen Blick auf die Uhr. Er konnte nicht ewig hier herumsitzen und sich Chauncys Fachsimpeleien anhören. Es wurde Zeit für ihn, in die Redaktion zurückzukehren und den Artikel für die erste Seite zu schreiben.
Also beschloss er, sich möglichst unauffällig zu verdrücken. Als er an der Tür stand, schien die Nachmittagssonne einen goldenen, vermutlich glühend heißen Teppich über den Rasen vor der Kirche auszubreiten, Ludwig wagte gar nicht, daran zu denken, wie heiß es inzwischen in seinem geparkten AMC Pacer sein mochte.
Und doch war ihm plötzlich leichter ums Herz. Es fehlte nicht viel, und er hätte sich eingeredet, die Hitzeglocke habe die Stadt und ihre Umgebung nicht mehr ganz so unbarmherzig in ihrem Griff. Was, wie er sich eingestand, zu einem guten Teil an seiner optimistischen Grundeinstellung lag. Solange die Menschen in Medicine Creek
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