Pendergast 06 - Dark Secret - Mörderische Jagd
Wert auf Logik. Er unterdrückt jegliche Zurschaustellung von Gefühlen und vertraut sich kaum einmal, wenn überhaupt, irgendeinem Menschen an. Er hat, wenn überhaupt, nur wenige Freunde und Schwierigkeiten, Beziehungen zum anderen Geschlecht anzuknüpfen. Die Person hatte vermutlich eine schwere Kindheit mit einer kalten, kontrollierenden Mutter und einem fernen oder abwesenden Vater. Die Bindungen zur Familie waren nicht eng. Es wird wohl Fälle von Geisteskrankheit oder Straffälligkeit in der Familie geben. Als Knabe hat er ein schweres emotionales Trauma erlitten, ausgehend von einem engen Familienangehörigen – Mutter, Vater oder Geschwister –, das er sein ganzes weiteres Leben zu kompensieren versucht hat. Er misstraut jeder Form der Autorität und hält sich anderen gegenüber für intellektuell und moralisch überlegen …«
»Was für ein Psychogewäsch!«, rief D’Agosta. »Das stellt doch alles auf den Kopf. Das trifft Pendergast ganz und gar nicht!«
Er hielt abrupt inne. Hayward sah ihn mit erhobenen Augenbrauen an. »Dann erkennst du diese Person also wieder?«
»Natürlich erkenne ich sie wieder. Aber das stellt doch komplett auf den Kopf, wie er wirklich ist. Pendergast hat diese Leute nicht umgebracht. Man hat ihn reingelegt. Die Indizien, das Blut, das wurde doch alles manipuliert. Sein Bruder Diogenes ist der Mörder.«
»Sprich weiter«, sagte Hayward nach langem Schweigen.
»Nach Pendergasts Martyrium in Italien, als wir ihn alle für tot hielten, hat Diogenes ihn in eine Klinik gebracht, damit er sich erholt. Pendergast war krank, stand unter dem Einfluss von Medikamenten. Das muss Diogenes reichlich Gelegenheit gegeben haben, dieses ganze kriminaltechnische Beweismaterial einzusammeln, das er brauchte, um Pendergast reinzulegen – Haare, Fasern, Blut. Es ist Diogenes. Begreifst du das denn nicht? Er hat seinen Bruder sein Leben lang gehasst, er plant das schon seit Jahren. Er hat Pendergast einen höhnischen Brief geschrieben, in dem er erklärt, er werde das perfekte Verbrechen begehen, sogar mit Damm – heute.«
»Ich verbiete dir, mir noch einmal diese verrückte Theorie unter die Nase zu reiben, Vincent …«
»Jetzt rede ich. Diogenes will ein Verbrechen begehen, das noch fürchterlicher sein wird, als seinen Bruder umzubringen. Er will alle töten, die seinem Bruder am Herzen liegen, aber ihn selbst am Leben lassen. Jetzt hat es für mich den Anschein, dass er Pendergast dieses Verbrechen auch noch anhängen will…«
D’Agosta hielt inne. Laura sah ihn mit derart mitleidiger Miene an, dass es schon fast an Kummer grenzte. »Vinnie, weißt du noch, als du mir gesagt hast, ich soll mich mal um Diogenes kümmern? Nun, das habe ich getan. Es war zwar irrsinnig schwierig, ihn aufzuspüren, aber das hier habe ich gefunden.« Sie klappte eine Akte auf, nahm ein Schriftstück heraus und schob es D’Agosta hin. Es war mit einem dicken Stempel versehen und notariell beglaubt.
»Was ist das?«
»Eine Todesurkunde. Die Sterbeurkunde des Diogenes Dagrepont Bernoulli Pendergast. Er ist vor zwanzig Jahren bei einem Autounfall in Großbritannien ums Leben gekommen.«
»Eine Fälschung. Ich habe seinen Brief gesehen. Ich weiß, dass er lebt.«
»Könnte nicht auch Pendergast selbst diesen Brief geschrieben haben?«
D’Agosta starrte sie an. »Ich habe Diogenes gesehen. Mit eigenen Augen.«
»Ach ja? Wo denn?«
»Vor dem Castello Fosco. Als man Jagd auf uns gemacht hat. Er hatte zwei verschiedenfarbige Augen, genau wie Cornelia Pendergast uns erzählt hat.«
»Und woher weißt du, dass es sich dabei um Diogenes handelte?«
D’Agosta zögerte. »Pendergast hat es mir gesagt.«
»Hast du mit Diogenes gesprochen?«
»Nein. Aber ich habe erst kürzlich ein Bild von ihm gesehen, das ihn als Kind zeigt. Es war dasselbe Gesicht.«
Es folgte ein langes Schweigen. Hayward nahm nochmals das psychologische Täterprofil zur Hand. »Hier steht noch etwas drin. Lies mal.« Sie schob ihm eine Seite hin.
Möglicherweise zeigen sich bei der Zielperson Symptome einer seltenen Form von multipler Persönlichkeitsstörung, einer Variante des Münchhausen-Stellvertreter-Syndroms, bei dem die betreffende Person zwei getrennte, diametral entgegengesetzte Rollen einnimmt: die des Mörders und die des Ermittlers. In diesem ungewöhnlichen Fall kann es sich bei dem Mörder auch um einen Polizisten handeln, der dem Fall zugeteilt ist. Oder um einen Ermittler, der mit dem Fall betraut ist. Bei
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