Pendergast 06 - Dark Secret - Mörderische Jagd
einen Gott gibt, ist er selbst verrückt. Ich frage mich, warum Sie keine Angst haben. Ist es Mut oder Dummheit – oder fehlt es Ihnen einfach an Phantasie, können Sie sich Ihren eigenen Tod nicht vorstellen? Sehen Sie, ich kann ihn mir vorstellen, ich habe ihn mir vorgestellt, mit aller Klarheit. Wenn ich Sie ansehe, sehe ich einen Beutel gefüllt mit Blut, Knochen, Eingeweiden und Fleisch, bedeckt von einer zarten und verletzlichen Hülle, leicht zu durchbohren, leicht zu zerreißen oder zu zerschlitzen. Ich muss zugeben, ich hatte mich darauf gefreut.« Er betrachtete sie scharf. »Ah! Entdecke ich da endlich ein Anzeichen von Furcht?«
»Was wollen Sie?«, wiederholte sie.
Er hob die Hand, öffnete sie mit einer Drehung und enthüllte einen glänzenden Edelstein, den er zwischen Daumen und Zeigefinger hielt. Das Deckenlicht verfing sich darin und warf glitzernde Farbflecken durch den Raum. »Ultima Thule.«
»Wie bitte?«
»Das ist ein Diamant, der unter dem Namen ›Ultima Thule‹ bekannt ist. Er ist nach einer Zeile aus Vergils Georgica benannt. Das ist Latein und bedeutet ›das äußerste Thule‹, das Land des ewigen Eises.«
»Ich hatte auch Latein in der Schule«, versetzte Viola sarkastisch.
»Dann werden Sie verstehen, warum dieser Diamant mich an Sie erinnerte.« Mit einer Drehung des Handgelenks warf er ihr den Stein zu. Unwillkürlich fing sie ihn auf. »Ein kleines Abschiedsgeschenk.«
Etwas an der Art, wie er »Abschied« sagte, vermittelte ihr ein äußerst unbehagliches Gefühl. »Ich will keine Geschenke von Ihnen.«
»Oh, aber er passt doch so gut zu Ihnen. Zweiundzwanzig Karat, Prinzess-Schliff, Reinheit: lupenrein, Farbe: D. Sind Sie vertraut mit den Kriterien, nach denen sich der Wert eines Diamanten bemisst?«
»Was für einen Blödsinn Sie faseln!«
»D ist die Einstufung, die ein vollkommen farbloser Diamant bekommt. Es wird auch hochfeines Weiß genannt. Menschen mit wenig Phantasie betrachten das als erstrebenswerte Eigenschaft. Wenn ich Sie anschaue, Viola, was sehe ich? Eine wohlhabende, adlige, schöne, brillante und erfolgreiche Frau. Sie haben eine glorreiche Laufbahn als Ägyptologin vorzuweisen, Sie haben ein charmantes Haus auf der Insel Capraia und einen vornehmen alten Familiensitz in England. Zweifellos sind Sie der Ansicht, dass Sie das Leben bis zur Neige auskosten. Und nicht nur das, Sie hatten Affären mit einer Reihe interessanter Männer, einem Professor aus Oxford, einem Hollywoodschauspieler, einem bekannten Pianisten – sogar ein italienischer Fußballspieler war dabei. Wie andere Sie beneiden müssen!«
Schock und Wut über dieses Eindringen in ihre Privatsphäre durchfuhren Viola. »Sie verdammter…«
»Und doch ist nicht alles so, wie es scheint. Alle Ihre Beziehungen sind gescheitert. Sie werden sich zweifellos sagen, dass der Fehler bei den Männern liegt. Wann werden Sie auf die Idee kommen, Viola, den Fehler bei sich selbst zu suchen? Sie sind genau wie dieser Diamant – makellos, brillant, perfekt und gänzlich farblos. All Ihre bemitleidenswerten Versuche, aufregend zu erscheinen, unkonventionell, sind genau das – traurige Versuche.« Er lachte rau. »Als ob das Ausbuddeln von Mumien oder das Wühlen in Ihrem kleinen Dreckloch am Mittelmeer Charakter verleihen könnte! Dieser Diamant, den alle Welt für so vollkommen hält, ist in Wahrheit absolut gewöhnlich. Wie Sie. Sie sind fünfunddreißig Jahre alt, Sie sind ungeliebt und lieben niemanden. Ja, Sie sehnen sich so verzweifelt nach Liebe, dass Sie um die halbe Welt fliegen, weil ein Mann, den Sie nur ein einziges Mal gesehen haben, Ihnen einen Brief schickt! Ultima Thule gehört Ihnen, Viola. Sie haben ihn sich verdient.«
Viola taumelte. Seine Worte waren wie körperliche Schläge, einer nach dem anderen, jeder traf. Diesmal hatte sie keine Antwort parat.
»Ganz recht. Wo Sie auch hingehen werden, Sie leben in Ultima Thule, dem Land des ewigen Eises. Wie jemand einmal sagte: Wo immer man hingeht, dort ist man. Es ist keine Liebe in Ihnen, und es wird keine Liebe für Sie geben. Unfruchtbarkeit ist Ihr Schicksal.«
»Sie und Ihr Stückchen Glas können mich mal!«, rief sie und warf den Stein heftig zurück.
Er fing ihn geschickt auf. »Glas, sagen Sie? Wissen Sie, was ich gestern getan habe, während Sie ganz allein hier waren?«
»Mein Interesse an Ihrem Leben würde sogar unter dem stärksten Mikroskop nicht zu erkennen sein.«
Diogenes zog ein quadratisches Stück
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